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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel
Autoren: Friedrich Ani
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Leiche nicht finden und die Täter nicht überführen konnten.
    Echte Langzeitvermisste tauchten in unseren Statistiken höchstens alle zwei bis drei Jahre auf, Personen, bei denen wir ziemlich sicher waren, dass sie sich auf Nimmerwiedersehen ins Ausland abgesetzt hatten. Ansonsten gelang es uns, trotz der jährlich steigenden Zahl von Vermissungen die meisten zu klären, und nur in seltenen Fällen endete die Suche mit einer Totauffindung, wobei die geringste Zahl der Opfer ermordet wurde. Die meisten von ihnen hatten Selbstmord begangen.
    Freyas Beunruhigung hatte jedoch noch einen anderen Grund als den Merksatz, den sie sich zu Herzen genommen hatte, und die Unsicherheit angesichts der zurückhaltenden Art von Olga Korbinian. Was sie umtrieb, auch wenn sie kein Wort darüber verlor – vermutlich, weil sie dachte, bei ihrer kurzen Zugehörigkeit zum K 114 stünden ihr solche Äußerungen nicht zu –, war die Frage: Was bedeutet überhaupt »ohne Voraussetzungen verschwinden«? Bei späteren Vermissungen sprachen wir oft darüber, und Freya fragte mich, ob ich jemals geglaubt hätte, sämtliche Voraussetzungen zu kennen, unter denen jemand gelebt hatte und die ihn schließlich zwangen, von einem Tag auf den anderen seine gewohnte Umgebung zu verlassen. Vielleicht, sagte ich. Aber ich hätte auch ja sagen können. Denn im Lauf meiner Arbeit als Hauptkommissar waren mir wie niemandem sonst, nicht einmal dem besten Freund oder dem Pfarrer oder dem Arzt, aus den verschlossensten Zimmern eines Lebens Geschichten anvertraut worden, aus denen ohne jeden Zweifel die Ursache für die drastische Entscheidung hervorging.
    Aber was nutzten mir diese Erkenntnisse wirklich? Die leere Stelle blieb. Und die Zimmertür wurde wieder geschlossen und verriegelt. Ich vertraute mich der Technik des Polizeiapparats und dem Können meiner Kollegen an, aber sie interessierten sich für Geschichten nur am Rande, sie benötigten Bausteine, keinen Efeu, sie suchten den geraden, benennbaren Weg und eindeutige Aussagen und nicht wie ich die Abschweifungen, die Umwege, das Abseitige, das Schweigen.
    Die Person, um die es ging, erlösten sie so wenig wie ich, wir fanden sie, tot oder lebendig, und meldeten Vollzug an das Landeskriminalamt, wo mein Kollege Wieland Korn die letzten Daten in den Computer tippte und die Statistik um eine weitere Zahl ergänzte.
    Die Fälle endeten, doch die Geschichten der Personen existierten weiter, nur für mich. Gelegentlich erzählte ich Martin oder Sonja davon, niemandem sonst, und manchmal halfen mir diese Erzählungen, einen neuen Fall zu verstehen oder wenigstens in ihn hineinzufinden.
    Auf eine Weise, die ich anfangs nicht erklären konnte, erinnerte mich die Sache Korbinian an den Fall eines Mannes, der eines Morgens im Dezernat aufgetaucht war und behauptet hatte, er sei verschwunden gewesen und nun zurückgekehrt und bitte darum, seine Daten zu löschen. Wie sich bald herausstellte, war dieser Mann nie als vermisst gemeldet worden. Unbemerkt von den Leuten, die ihn halbwegs kannten, hatte er sich verirrt gehabt, mitten unter ihnen.
    Bis heute sehe ich diesen Mann manchmal vor mir, und seine Nähe verschafft mir Erleichterung.
    Genau wie Cölestin Korbinian, der mich an jenem vierten Juli zum ersten Mal aus verschatteten, unnahbaren Augen ansah.
    »Das war in Meran«, sagte Olga Korbinian. Sie wandte sich mir dabei nicht zu, blickte weiter aus dem Fenster, hielt die Gardine mit beiden Händen fest. Ich betrachtete das Foto in meiner Hand, den Mann mit dem schmalen Gesicht, das beinah eingefallen wirkte. Er trug einen Strohhut, den er nach hinten geschoben hatte, was an der Dunkelheit um seine Augen nichts änderte.
    »Wann?«, sagte ich.
    »Vor drei Jahren«, sagte sie und ließ die Gardine los und sah weiter aus dem Fenster.
    Dann, während sie sich langsam umdrehte, mich eine Zeit lang betrachtete und mit leisen Schritten zum Tisch ging, berichtete sie mir von ihren Urlauben, von der Arbeit ihres Mannes in der Fraunhoferstraße, von seinen Gewohnheiten, zum Beispiel der, sie an der Tür zu küssen.
    »Er war wie immer«, sagte sie. Inzwischen hatte sie sich hingesetzt und mehrere Male ihre leere Kaffeetasse auf dem Unterteller hin und her gedreht.
    Ich sagte: »Hat er Sie wieder geküsst?« Sie zog die Stirn in Falten. »Bitte?«
    Ich schwieg. Ich stand vor der Tür zum Nebenraum, vermutlich dem Schlafzimmer.
    Olga Korbinian senkte den Kopf. Offensichtlich bereitete ihr die Beantwortung der Frage
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