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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel
Autoren: Friedrich Ani
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schreiben sollen?
    »Aufgegriffen am frühen Morgen des zweiten August auf dem Viktualienmarkt, der Gesuchte trank an einem der Stände, die gerade öffneten, Kaffee und aß eine Butterbreze dazu. Er machte einen gesunden Eindruck. Auf die Frage, wo er sich in den vergangenen vier Wochen aufgehalten habe, sagte er, er habe sich herumgetrieben, dem Sommer zu Ehren. Warum er sich nicht bei seiner Frau gemeldet habe? Er sei, sagte er, nicht dazu gekommen. Ob er nicht damit gerechnet habe, dass seine Frau ihn als vermisst meldet und von der Polizei suchen lässt? Nein, sagte er, damit habe er nicht gerechnet , es tue ihm Leid, wenn Kosten entstanden seien. Ob er die Absicht habe, nach Hause zurückzukehren? Durchaus, sagte er, wo solle er sonst hin?
    Was ich so früh am Morgen auf dem Viktualienmarkt zu suchen gehabt hätte, fragte mich Volker Thon. Wie so oft, sagte ich, hätte ich nicht schlafen können und sei von Giesing aus den Nockherberg hinunter über die Isarbrücke und durch die Reichenbachstraße zum Markt gegangen, um den Händlern beim Sortieren der Lebensmittel zuzusehen und die würzige Luft zu genießen.
    Ich hätte auch etwas anderes in der Art sagen können – nichts davon wäre der Wahrheit auch nur nahe gekommen. Also beendete ich diesen Fall mit der gleichen Routine, wie ich ihn begonnen hatte, überhörte hämische Fragen und trank gemeinsam mit Sonja und Martin Bier unter freiem Himmel und erwachte am Morgen hautumrankt.
    Heute, in der flüchtigen Stille dieses Hotelzimmers, fern aller Formulare, allein und vom Alleinsein gealtert, kehre ich zurück zu jenem vierten Juli, einem Tag, an dem es um acht Uhr morgens sechsundzwanzig Grad warm war und ich eine Nacht hinter mir hatte, in der ich vor lauter Sonja mit den Fingerspitzen beinah eine Botschaft in die Wolken geritzt hätte.
    Noch nie zuvor, sagte Olga Korbinian, habe ihr Mann länger als einen halben Tag nichts von sich hören lassen, und nun sei er die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen, ihr sei schwindlig vor Angst.
    Ich wünschte, ich hätte wenigstens ihr sagen können, was geschehen war.
    Er hatte es mir verboten. Und ich verstand ihn.

2
    F ür die Frau des Postbeamten, der nach der Privatisierung der Post kein Beamter mehr war , sondern Angestellter wie alle seine Kollegen, schien es das Wichtigste zu sein, dass ich Kaffee trank. Gegen meine Gewohnheit hatte ich mich an den Wohnzimmertisch gesetzt, nur um ihr einen Gefallen zu tun und sie auf diese Weise vielleicht etwas zu beruhigen, wobei sie sich größte Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. Zur Begrüßung an der Tür hatte sie mich angelächelt und hereingebeten, als wäre ich ein freudig erwarteter, oft gesehener Gast, der endlich einmal wieder den Weg in die Innenstadt gefunden hatte.
    Das Ehepaar Korbinian wohnte neben der Feuerwehrtrutzburg nahe des Sendlinger Tors, ein paar Meter von einem elfstöckigen Backsteingebäude entfernt, das als das erste Hochhaus Münchens galt, weswegen schräg gegenüber noch immer ein »Café am Hochhaus« existierte.
    Bis vor einigen Jahren zählten die Adressen in der schmalen Straße zwischen Feuerwehrgebäude und Marionettentheater zur Blumenstraße, der angrenzenden Hauptstraße, mittlerweile wohnten die Korbinians und ihre Nachbarn An der Hauptfeuerwache. Die Wohnung des Postlerehepaars im Parterre eines gelben Hauses war voll gestellt mit schweren Möbeln aus dunklem Holz.
    An den Wänden hingen unzählige Landschaftsbilder, in braunen Farben gehaltene kleine Gemälde und Stiche, daneben Familienfotos in Schwarzweiß und oval gerahmte Porträts älterer Menschen mit verschlossenen Gesichtern. Es kam mir vor, als dürfe es in dieser Wohnung keinen freien Platz geben, keinen direkten Blick auf die weiße Wand, keinen offenen Blick nach draußen.
    Hinter den dicht geschlossenen, bis zum Boden reichenden Vorhängen erahnte man eine ferne Welt.
    Das war die Wohnung zweier Menschen, die keine ferne Welt brauchten, deren Genügsamkeit sich auf dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr verteilte, eingebettet in einen unveränderlichen Alltag, der sie auch dann nicht wesentlich erschütterte, wenn bundespolitische Entscheidungen sich unmittelbar auf die Tätigkeit am Schalter auswirkten. Korbinians Dienst begann um acht Uhr morgens und endete von Montag bis Freitag um achtzehn Uhr, jeden zweiten Samstag um zwölf Uhr dreißig. Zog man die Mittagszeit ab, hatte die Vierzigstundenwoche am Ende des Jahres tatsächlich vierzig Stunden gedauert
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