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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel
Autoren: Friedrich Ani
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junge Kollegin, Oberkommissarin Freya Epp, einige Stichpunkte notiert, eine Weile zugehört und dann der Anruferin erklärt, sie möge sich beruhigen und Geduld haben, bestimmt kehre ihr Mann im Lauf des Tages nach Hause zurück, nichts weise darauf hin, dass etwas Schlimmes passiert sei. Mehrmals verstummte Olga Korbinian am Telefon so lange, dass Freya dachte, sie habe aufgelegt. Das Gespräch dauerte eine Viertelstunde, und am Ende versicherte Freya, sie würde sich mittags melden, und falls Cölestin Korbinian bis dahin nicht aufgetaucht sei, würde sie eine vorläufige Vermisstenanzeige aufnehmen, das verspreche sie. Die Kommissarin glaube ihr nicht, sagte Frau Korbinian, sie denke, ihr Mann sei bei einer anderen Frau, aber das stimme nicht, das stimme ganz und gar nicht, er sei verschwunden, und das sei das Furchtbarste, was ihr in ihrer Ehe je passiert sei.
    Freya gab mir das abgetippte Gesprächsprotokoll, und ich fand, sie hatte sich am Telefon richtig verhalten. Derartige Anrufe erhielten wir regelmäßig. Männer tauchten ab und ließen verdatterte Familien zurück, von denen mir manche den Eindruck vermittelten, sie seien weniger schockiert und besorgt als vielmehr beleidigt und fühlten sich bloßgestellt. Ohne ihre wahren Empfindungen in Worte zu fassen, klang aus jedem ihrer scheinbar sorgenerfüllten Sätze die Anklage, wie der Verschwundene sein Verschwinden ihnen nur antun, wie er sich nur so rücksichtslos und beschämend verhalten könne, woher er die Frechheit nehme, seine Angehörigen zu zwingen, Dinge zu erzählen, die niemanden etwas angingen, auch nicht die Polizei. Zumindest mit Letzterem hatten sie Recht. Sogar wenn wir einen Unglücksfall oder einen Selbstmord für möglich hielten, bestanden wir nicht auf den intimen Details der Familiengeschichte. Entscheidend für uns waren eine konkrete Beschreibung des Vermissten, seine äußere Erscheinung – mitteleuropäisch, asiatisch, negroid, slawisch, nordländisch, orientalisch –, Angaben über seine Gewohnheiten, über Orte und Stellen, an denen er sich oft aufgehalten hatte, über seine Kleidung, körperliche Merkmale – Tätowierungen, Narben –, seine Art zu sprechen – Hochdeutsch, Mundart, Fremdsprachen –, seinen letzten Aufenthaltsort, den genauen Zeitpunkt seines Verschwindens. Fakten, die unsere Fahndungsmaßnahmen bestimmten, unabhängig davon, dass wir das lokale Umfeld sowieso als Erstes überprüften: Keller, Speicher, Garagen, Grundstück, Garten, bevorzugte Lokale und Sportplätze. Wenn wir Zeit hatten und genügend Kollegen zur Verfügung standen, führten wir diese Kontrollen auch dann durch, wenn jemand erst einen Tag oder eine Nacht verschwunden war, und stellten die Angaben ins Computersystem, wo die Personenbeschreibung über eine Datei des Bundeskriminalamts mit der von unbekannten Toten verglichen wurde. Diesen Vorgang verschwiegen wir. Jedenfalls hatten wir vorerst genug getan, um die Angehörigen zu beruhigen, in den meisten Fällen kehrte der zornig Vermisste spätestens nach drei Tagen zurück, und manchmal erfuhren wir erst durch einen Routineanruf bei der Familie davon. Dass sie gerade noch jemanden vermisst hatten, schien den Angehörigen schlagartig entfallen zu sein.
    Was Freya Epp nach dem Anruf von Olga Korbinian keine Ruhe ließ, hing einerseits mit einem der Merksätze zusammen, die sie in den wenigen Monaten, seit sie auf der Vermisstenstelle arbeitete, immer wieder gehört hatte: Verschwindet jemand ohne Voraussetzungen, dann ist er aller Wahrscheinlichkeit nach tot. Andererseits machte sich Freya vor allem deshalb Sorgen um den Postler, den sie nicht kannte, weil Olga Korbinian trotz des Vorwurfs, die Kommissarin würde ihr keinen Glauben schenken , »eigenartig still und zurückhaltend«, wie Freya fand, und in keiner Weise aufgeregt gewirkt habe. So, als wisse sie mehr, als sie zugeben mochte, und Freya ärgerte sich, weil ihr dieses Verhalten nicht bereits während des Telefongesprächs aufgefallen war, sondern erst hinterher, als sie das Protokoll abschrieb.
    Wenn jemand ohne Voraussetzungen verschwand – und länger als drei Tage verschwunden blieb –, gingen wir erst einmal nicht davon aus, dass er ein neues Leben in einer fernen Welt begonnen hatte. Stattdessen rechneten wir mit einem Unglück oder Verbrechen und stimmten unsere Ermittlungen darauf ab. Fast immer bestätigte die Wirklichkeit unsere Hypothesen, auch dann, wenn wir klare Indizien für eine Straftat vorweisen, aber die
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