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Süden und das Lächeln des Windes

Süden und das Lächeln des Windes

Titel: Süden und das Lächeln des Windes
Autoren: Friedrich Ani
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und dem Geruch von Glühwein in der Nase wieder neben ihm Platz nahm.
    »Wenn dem Jungen was passiert ist, sind wir fällig.«
    Ich bestellte ein Glas Rotwein. Martin rauchte. Wir saßen an einem Fensterplatz und sahen hinaus auf die Lothringer Straße. Es war kurz vor sechzehn Uhr, und es wurde schon dunkel. Die Passanten verwandelten sich in vermummte Gestalten, die vorübereilten und manchmal Kinder, manchmal Hunde hinter sich her zerrten. Im Modegeschäft neben dem Toreingang, durch den man zur Praxis von Frau Dr. Zwerens gelangte, zielten Scheinwerfer auf zwei Schaufensterpuppen, von denen die eine ein rotes, die andere ein grünes Kleid trug.
    »Möge es nützen!«, sagte Martin und hob sein Glas. Wir stießen an und tranken. Der Wirt unterhielt sich mit seinem jungen Kellner. Leise griechische Musik spielte, und lautlos fielen die Flocken gegen die Fensterscheibe.
    Ich strich mir die feuchten Haare aus dem Gesicht und verscheuchte Erinnerungen.
    »Schon wieder fast ein Jahr um«, sagte Martin. Ich schwieg.
    Auch Martin sagte lange Zeit nichts. Dann trank er das Glas leer und stellte es an den Tischrand.
    Natürlich konnten wir nicht ins Dezernat zurückkehren und Timo Berghoff vergessen. Auch ohne konkrete Anzeige waren wir verpflichtet, die Spur des Jungen zu verfolgen, ohne die Privatsphäre seiner Angehörigen zu verletzen – und möglicherweise seine eigene.
    »Und wie stellst du dir das jetzt vor?«, fragte mein Kollege Wieland Korn vom Landeskriminalamt am Telefon.
    »Soll ich ein Fernschreiben rumschicken oder soll ich die Direktionen anrufen und ihnen sagen, wir hätten da eine Bitte, wenns keine Umstände macht? Wie jetzt?«
    Seit Korn im LKA für die Koordination bayerischer Vermisstenfälle zuständig war, geriet ich regelmäßig in Erklärungsnot.
    »Kein Fernschreiben«, sagte ich. »Wir formulieren ein kurzes Fax mit der Bitte an die Kollegen, die Augen offen zu halten, speziell im südlichen Raum.«
    »Ist recht, Süden«, sagte Korn.
    Über jeden Vermisstenfall, egal, ob es sich um einen Erwachsenen oder ein Kind handelte, mussten wir das LKA informieren, dessen Vermisstenstelle den Fahndungsapparat in Gang brachte. Korn und seine Kollegen gaben die Daten ins INPOL-System ein, wo diese automatisch mit der BKA-Datei VERMI/UTOT vernetzt wurden, damit die Kollegen die aktuellen Angaben mit denen von bereits Vermissten und aufgefundenen unbekannten Toten vergleichen konnten. Gleichzeitig schickte das LKA Sammelfernschreiben an örtliche Inspektionen und setzte – vor allem wenn es um ältere suizidgefährdete Menschen ging, deren Vermissung nicht länger als einen Tag zurücklag – RUFUDUS auf, Rundfunkdurchsagen für die hiesigen Medien. Unsere Aufgabe als zuständige Kommissare in den Dezernaten war es, so viele und exakte Details wie möglich zusammenzutragen, Vernehmungen durchzuführen, Zahnschemata und ähnliche zur Identifikation notwendige Unterlagen zu besorgen und Formulare auszufüllen, in denen wir besondere körperliche Merkmale und spezielle Vorlieben hervorhoben und die die Beschreibung der Kleidung, Hinweise auf mögliche Aufenthaltsorte und gewisse Gewohnheiten sowie Gründe, Zeitpunkt und Ort, eventuell auch die Umstände des Verschwindens beinhalteten.
    Alles, was wir herausfanden, gaben wir ans LKA weiter, das Art und Umfang der Fahndung bestimmte. Wir waren die Soldaten eines großen unvermeidlichen Papierkriegs, der durch die Installierung neuer, noch schnellerer Computersysteme nur an andere Fronten verlagert worden war. Jedenfalls aus meiner Sicht.
    Sollte es stimmen, was meine Vorgesetzten und einige Presseleute hartnäckig behaupteten, dass ich nämlich im Laufe meiner zwölfjährigen Arbeit in der Vermisstenstelle des Dezernats 11 den einen oder anderen Erfolg aufzuweisen hätte, weil es mir gelungen war, in die »Zimmer« von Menschen vorzudringen, die sie bis dahin sogar vor sich selbst fest verschlossen gehalten hatten, und damit ein komplexes Vermisstenschicksal aufzuklären, so war ich überzeugt, dass dieser Erfolg – sofern es sich nicht doch eher um Glück handelte – auf nichts anderes zurückzuführen war als auf eine gewisse Sturheit und Schweigefähigkeit, unabhängig aller elektronischen Kavallerie.
    So veraltet der Gebrauch von Fernschreiben in Zeiten der E-Mails anmutete, so altmodisch blieb ich bei meiner Methode der unbedingten Anteilnahme. Ich folgte keinem Programm, ich hatte meine Lehrjahre nicht dazu benutzt, mein eigenes System mit dem der
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