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Süden und das Lächeln des Windes

Süden und das Lächeln des Windes

Titel: Süden und das Lächeln des Windes
Autoren: Friedrich Ani
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den sie sich verliebt?«
    Ratlos hofften Martin und ich auf Erlösung. Dann sagte Martin: »Samuel Jackson.«
    »Nein«, sagte Freya. »Das ist der Waffenschieber, mit dem sie Geschäfte macht und den sie dann austrickst.«
    »Stimmt«, sagte ich.
    »Michael Keaton«, sagte Martin.
    »Nein«, sagte Freya. »Das ist der Polizist, den sie reinlegt. Ich mein den Liebhaber, den älteren Kerl…«
    Martin schaltete seinen Computer aus und ich schüttete den Rest Kaffee aus der Tasse in den Ausguss. Freya wartete auf eine Antwort.
    »Sags uns!«, sagte Martin.
    »Robert Forster.«
    Ich sagte: »An den Namen kann ich mich überhaupt nicht erinnern.«
    »Ihr solltet euch den Film dringend noch mal anschauen«, sagte Freya. Das Telefon klingelte, und weil sie direkt daneben stand, nahm sie den Hörer ab.
    »Vermisstenstelle, Epp… Ja, Moment…« Sie reichte mir den Hörer. »Eine Frau Berghoff.«
    »Süden«, sagte ich.
    Anstatt uns Robert Forster anzusehen, brachen wir in Richtung Perlacher Forst auf.
    Nachdem wir in dichtem Schneetreiben quer durch die Stadt gefahren waren, erreichten wir die Fasangartenstraße, von der wir links abbiegen mussten, um zum Falkenweg zu gelangen, wo die Familie Berghoff wohnte.
    Wahrscheinlich hatten wir vom Dezernat aus nicht gerade die kürzeste Strecke genommen, doch bei diesen Wetterverhältnissen und Martins schleppendem Fahrstil spielte es keine Rolle, wie lange wir brauchten. Die Fahrzeuge krochen dahin und stauten sich an den Kreuzungen, Straßenbahnen blieben stecken, und wegen Auffahrunfällen kam es zu kuriosen Ausweichmanövern, die die Blechknäuel noch vergrößerten.
    Den Kopf nach vorn gestreckt, saß Martin hinter dem Lenkrad, stoisch wie bei einer Meditation, fuhr Hunderte von Metern im ersten Gang, ließ sich von keinem Hupen, keinem Aufblendlicht aus der Ruhe bringen, hupte gelegentlich selbst, aber nicht, weil er es plötzlich eilig gehabt hätte, sondern, so schien mir, um einen schüchternen Beitrag zum allgemeinen Konzert zu leisten. Ich saß wie immer auf der Rückbank hinter dem Beifahrersitz und dachte an den Jungen, dessen Vermissung in der Statistik die Nummer achthunderteinundzwanzig haben würde. So viele Kinder unter dreizehn Jahren waren in diesem Jahr bereits verschwunden gewesen und bis auf fünf inzwischen alle wieder bei ihrer Familie. Unter den jugendlichen Ausreißern war eine große Zahl von Dauerläufern, die regelmäßig verschwanden und nach einigen Wochen freiwillig zurückkehrten oder von Streetworkern und Sozialarbeitern der Polizei übergeben wurden, die sie dann nach Hause brachte, bis zum nächsten Mal.
    Ich kannte viele dieser Dauerläufer, ich hörte mir ihre Geschichten an, die alle ähnlich klangen, ähnlich banal, ähnlich verzweifelt. Manche suchten ein Abenteuer, wollten testen, wie weit sie gehen konnten, wie ihre Eltern reagieren würden, waren auf der Suche nach Grenzen, von denen sie nur eine vage Vorstellung hatten, viele ertrugen die alltägliche Verlogenheit in ihrem Elternhaus nicht länger, manche suchten Geborgenheit oder, wie sie es ausdrückten, echte Gefühle und echte Worte und echte Berührungen, nicht bloß ein Tätscheln oder einen Fünfzig-Euro-Schein für gute Noten. Auf der Suche nach etwas anderem, dem wahren Leben, waren sie alle, und wenn ich sie fragte, was genau sie darunter verstehen würden, erwiderten sie: Kumpels haben, was trinken und losleben, über Los gehen und losleben, genauso, los über Los.
    Los über Los.
    Ich wusste genau, wovon sie sprachen, aber das durfte ich ihnen nicht sagen, denn ich war Polizist und stand auf der anderen Seite der Straße und hielt ein Stoppschild hoch. Außerdem hätten sie mich sowieso bloß ausgelacht. Und diejenigen unter dreizehn, die in einer Extrastatistik registriert wurden, flüchteten aus Angst vor elterlicher Gewalt oder weil sie den Älteren etwas beweisen wollten oder weil sie nicht mehr kindhaft genug waren, um sich von gefälschten Worten und Gesten täuschen zu lassen.
    Oder sie verschwanden, weil sie in die Hände eines Verbrechers geraten waren.
    Timo Berghoff war weggelaufen, weil seine Mutter ihn krankenhausreif geprügelt hatte. Angeblich.
    Und nun hatte er sich gemeldet. »Sie müssen sofort kommen!«, hatte Susanne Berghoff am Telefon gesagt und geweint. Auf welche Weise er sich gemeldet hatte, hatte sie nicht sagen wollen, vor lauter Schluchzen hatte sie kaum Luft bekommen.
    »Wo sind wir hier?«, fragte ich.
    »Deine Heimat«, sagte Martin.
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