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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Theater, ins Kino, in Bars gehen, sie würde Männer kennenlernen, und sei es nur für eine Nacht. Sie hatte schon lange keine Männer mehr kennengelernt. Sie hatte keine Männer mehr gehabt, solange ich mich an sie erinnern kann. Sie hatte es sich nicht gestattet. Sie musste von einem Moment auf den anderen damit aufgehört haben. Gelegenheiten hätte es genug gegeben. Sie war schön. Ich hatte als Kind oft gedacht, dass sie etwas Besseres verdient hätte als dieses Neubaugebiet, dass ihre Schönheit verschwendet wäre in diesen schäbigen Plattenbauten mit einheitlich gestrichenen Balkons, Männern in Rippenshirts und Frauen, die nach Buletten rochen und die ich dafür hasste, dass sie meine Mutter, nur weil sie auch hier wohnte, als eine der ihren betrachteten. Ich sah meine Mutter in einer dieser Fernsehserien, in denen blitzende Pools vorkamen und Menschen, die auf Sonnenliegen unter Palmen Cocktails tranken, was ich damals für den Inbegriff von Luxus hielt. Dort gehörte meine Mutter hin. Das sah man an ihren weiten Kleidern, das spürte ich in ihrem weichen, milden Duft, den sie auflegte, wenn sie das Haus verließ, das sah ich jedesmal, wenn sie sich in ihre Haare einen frischen Kastanienton hineinwusch. Mit ihrem ausgreifenden Schritt und den weit vor und zurück pendelnden Armen, was zusammen einen vollkommenen Rhythmus ergab, fiel sie auf. Aber selten hatte sie die Blicke, die sie trafen, erwidert. Anspielungen ignorierte sie. Und wenn sie in meiner Gegenwart einen Zettel zugesteckt bekam, sagte sie lachend: »Schon wieder einer, der seinen Tippschein auf den letzten Drücker abgibt.« Sie arbeitete bei der Post und nahm auch Lottoscheine entgegen. Erst als ich älter wurde, fiel mir auf, wie wenig ihre Arbeit bei der Post in das Bild von Pools und Cocktails passte.
    Gelegenheiten hätte es beispielsweise im Sommer gegeben, auf den Grillfesten des Rudersportvereins. Meine Mutter war weder sportlich, noch hätte sie sich je in einem Verein angemeldet. Es war mein Vater, der verschwundene Mann, der dem Verein seines Betriebes beigetreten war, und meine Mutter fuhr zu den Grillfesten immer noch mit. Sie wurde jedesmal eingeladen, und ich habe nie herausgefunden, von wem. Sie gehörte dazu. Sie hatte sich mit einer alleinstehenden älteren Frau angefreundet, in deren geräumigem Hauszelt sie schlief, während ich mir mit zwei anderen Jungs ein Baumwollzelt mit Spitzdach teilte. Der Betrieb hatte ein eigenes Areal mit Sanitärgebäude und Volleyballnetz am Tollensesee. An den Nachmittagen fanden Kinderspiele statt; Sackhüpfen, Eierlaufen, Zwei-Felder-Ball. Die Kinder durften sich ihren Spielleiter wählen. Während meine Mutter, ihre Freundin und ein paar andere Frauen das Volleyballnetz straff zogen, Kippen und Wurstpellen aus dem grauen Sand fischten, stellten sich die Männer in einer Reihe auf. Sie trugen schlabbrige, braune Badehosen. Ich weiß nicht, ob braun in meinen Kindersommern in Mode war oder ob es die einzige Farbe war, die die Textilkombinate produzierten.
    Die Männer hielten Bierflaschen vor dem nackten Bauch. Sie kratzten sich unter den Achseln und rotzten in den Sand, um uns abzuschrecken. Nicht alle hatten Bock auf Kinder. Aber die Regeln standen fest. Einer von ihnen wurde ausgewählt. Wir tauften ihn Onkel Pelle, und Onkel Pelle hatte bis zum Abend Alkoholverbot und musste mit uns spielen. Er war Schiedsgericht und Kindergärtner in einer Person. Seine einzige Rettung bestand darin, nach der Wahl wegzulaufen. Aber sobald wir ihn erwischten, gehörte er uns.
    Manchmal war unter den Männern einer, der sich nicht in Badehosen in die Reihe stellte, sondern in engen Jeansshorts und seidenem, über der Brust offenem Hemd. Wenn er da war, wollten wir ihn. Er rannte nicht besonders schnell, und ich erwischte ihn oft als Erster, und ich erinnere mich, dass ich das auf eine vage, verschwommene Weise für meine Mutter tat.
    Aber weder zu ihm noch zu einem der anderen Männer stieg sie ins Boot. Sie ließ sich von ihrer Freundin über den See rudern, in Sonnenhut und Bikini, bevorzugt bei Sonnenuntergang. Die beiden kehrten spät zurück. Oft saßen sie noch lange am Ufer und rauchten.
    Hätte meine Mutter Männer gehabt, hätte sie das kaum vor mir verbergen können. Neubrandenburg ist eine überschaubare Stadt. Sie wollte, dass ich nichts anderes in ihr sah als meine Mutter. Kindliche Liebe, fand sie, muss aufgefangen werden, sie braucht einen Halt. Sie hielt nichts von Müttern, die ihre Söhne
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