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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht
Autoren: Antje Rávic Strubel
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vorbei. Ich registrierte die dünnen Spuren der Wolken am Himmel, die Felsen, auf denen Vögel zu Tausenden brüteten, ich sah das türkisfarbene Meer, die Kalksteine, ich sah die Häuser in der Bucht, die Großfamilie, auf den Schultern das Kind, ich schätzte die Entfernung von hier bis zum Strand, zwischen Kaimauer und Boot, ich merkte mir die eisernen Ringe am Hafenbecken, ich studierte die Fluglinie der Möwen, ich merkte mir, aus welcher Richtung der Wind kam, ich kannte mich nach Sekunden sehr gut in dieser Bucht im Norden der Insel aus.
    Als ich die Frau auf der Kaimauer passierte, nahm sie mich flüchtig am Arm.
    Das Wasser glitzerte.
    Auch sie hatte damals keine Vorahnung, dass ich kommen würde. Sie konnte nicht ahnen, dass ich auf einer der Fähren sein würde, die zwischen Gotland und den vorgelagerten Inseln verkehrten. Sie ahnte nicht, dass ich überhaupt kommen würde, sie kannte mich nicht.
    Ich registrierte die Berührung ihrer Hand so genau, als hätte ich darüber einen Bericht schreiben müssen. Sie nahm mich flüchtig und grundlos am Arm, mehr ein Reflex, weil es auf dem Kai an dieser Stelle sehr eng war. Dann drehte sie sich um und ging zurück zum Strand. Die Finninnen folgten ihr.
    Sie winkte uns vor einen Fahnenmast. Felssteine waren zu einem kleinen Podest errichtet. Als sie das Podest betrat, fiel das Licht, das in der Nähe des Wassers noch von den hohen Klippen zurückgehalten worden war, auf ihr Gesicht.
    Sie setzte die Sonnenbrille auf. Es war eine modische große Brille, die ihre Wangen bedeckte.
    »Jemand hier, der kein Schwedisch kann?«
    Ich hatte mich hinter die Großfamilie gestellt, das Kind war eingeschlafen. Ich trat vor. Der Rucksackriemen rutschte mir von der Schulter, der Riemen blieb in der Ellbeuge hängen.
    »Wie heißt du?«
    »Erik.«
    »Gut, Erik. Du gehst zu Guido. Der übersetzt dir, was ich sage.« Ihr Englisch klang rau und arrogant.
    Guido war einer der beiden Scouts. Er stand neben dem Eingang zum Café und hatte den typischen Quadrathaarschnitt der Schweden. Er machte eine nervöse Kopfbewegung, als ich zu ihm kam. Das Café war nur wenige Schritte von der Fahnenstange entfernt, und ich hörte ihre Ansprache, aber ich verstand sie nicht. Ich sah, wie der Rotblonde seine Arzttasche zwischen die Füße schob. Er stand aufdringlich nah am Podest.
    Der Scout machte lustlos eine Belehrung mit mir. Er erklärte, dass ich keine Pflanzen abreißen durfte, dass ich nicht in die Vogelschutzzonen laufen sollte, und ich zwang ihn, mir in die Augen zu sehen.
    Bis zum Beginn der Führung blieb mir noch Zeit. Ich drehte eine Runde zwischen den Holzhäusern. Ich war allein. Die anderen standen immer noch vor dem Fahnenmast. Ich konnte die Finninnen lachen hören, ich hörte sie noch, als ich schon außer Sichtweite war. Am Ende des Strandes, wo der Sand in dorniges Gestrüpp überging, gab es eine alte Fischerkate, die Tür war offen. Auf einem Tisch stand ein Wasserkrug, an den Wänden sah ich zwei Pritschen, eine Sturmlampe stand auf dem Boden. Vielleicht schlief sie hier, dachte ich. Vielleicht schlief sie bei offener Tür, die Kate hatte keine Fenster. Ich stellte mir alles genau vor, ein Pyjama, weiß wie die Träger ihres BH s, ihr Arm hängt von der Pritsche, so dass ihre Hand fast den Boden berührt, die Haare aufgelöst auf dem Kissen, das Kissen ein mit Stroh gefüllter Sack, der unter dem Gewicht des Kopfes nicht nachgibt, die Feuchtigkeit, die sich im Stroh sammelt und in ihre Träume dringt, Träume, in denen ein Junge den Strand hinaufkommt, sich der Tür nähert und an den Türpfosten gelehnt wartet, bis sie endlich wach wird und ihn sieht.
    Ich begann zu schwitzen. Bei der Vorstellung, nicht vor heute Nachmittag hier wegzukommen, schien mein Brustkorb zu schrumpfen, ich bekam keine Luft mehr. Mir wurde übel, und in meiner Panik dachte ich, dass jede medizinische Hilfe, jeder Rettungshubschrauber zu spät käme. Ich fiel in den Sand. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Das Wasser war klar. Die Sonne stand hoch. Es war warm. Ich war zufrieden mit meinem Leben, ich hatte nichts versäumt. Also war es egal, ob ich früher oder später starb.
    Das half. Die Führung wollte ich nicht mehr mitmachen. Ich konnte mich ins Café setzen und die Überschriften der
Dagens Nyheter
erraten. Ich hatte das in der letzten Woche oft getan. Ich hatte in Cafés in Visby oder Slite gesessen und mir die Zeitungen angeschaut, und nach einer Weile hatte ich immer mehr Worte verstanden.
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