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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht
Autoren: Antje Rávic Strubel
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hatte auf diesen Infoblättern gestanden.
     
    Später, wenn wir miteinander schliefen, tauchten diese ersten Eindrücke manchmal vor mir auf, und auch jetzt auf der Fähre, als die Insel in der Ferne verschwindet, kehren sie wieder. Die Festigkeit ihres Händedrucks. Ihr rauer Ton. Die Art, wie sie meinen Namen sagte. Auch ihr in der Sonne vor dem Fahnenmast bloßliegendes Gesicht taucht wieder auf. Im Bett, wenn sie auf mir war und in der Bewegung innehielt und ihr nachspürte, die Augen geöffnet, war ihr Gesicht nackt. Es war hart und wach, und es schien lange her, dass mir jemand erklärt hatte, Sex hätte mit Selbstvergessenheit zu tun. Selbstvergessen war Inez nie.
    Jetzt löst sich ihre Gestalt in der Ferne über dem Wasser auf, verschwimmt, wird transparent, eine Lichtspiegelung. Wir haben nicht verabredet, uns aus dem Weg zu gehen. Wir haben überhaupt nichts verabredet. Wir haben nicht
auf Wiedersehen
gesagt oder uns die Hand gegeben oder umarmt. Wir haben uns nicht verabschiedet. Als würde sich das, was wir erlebt haben, nicht mit dem, was kommt, verbinden lassen. Oder als müsste es offen bleiben, für immer unbeendet.
    Inez wird mit niemandem darüber reden, und ich werde Annegret nur das Nötigste erzählen, das, was eine Mutter unbedingt erfahren muss. Aber ich werde auch nie wieder sorglose Affären haben oder One-Night-Stands, die mit einem Milchkaffee morgens in der Küche einer fremden Wohngemeinschaft enden. Ich werde nicht mehr in gelben oder grünen Küchen sitzen und die nächtlichen Eskapaden für das natürlichste Abenteuer der Welt halten, sondern ich werde denken; man merkt mir etwas an, einen Fehler, eine Ungereimtheit, ich werde immer denken, dass ich hier nicht richtig bin.
    Ich weiß nicht, was jetzt kommt. In manchen Nächten habe ich mir gewünscht, ich könnte die Zeit zurückdrehen und wieder der Junge sein, der glaubt, Tarotkarten würden ihm die Richtigkeit seiner Entscheidungen bestätigen. Man sucht sich seine Liebhaber nicht aus, hat Inez einmal gesagt, so wenig wie seine Eltern.
    Als sie an jenem Tag zum Strand hinuntergelaufen war, um die Kette am Minitraktor auszuwechseln, hatte sich ihr der Rotblonde in den Weg gestellt. Er musste im Café auf sie gewartet haben. Er trat ihr entgegen und griff nach ihrem Arm. Er hielt sie so abrupt fest, dass sie herumgewirbelt wurde. Dann standen sie eine Weile da. Sie versuchte nicht, sich loszumachen. Ich sah ihn grinsen und den Kopf schütteln, ich hörte seine Stimme, aber nicht, worum es ging. Als Inez sich doch losriss und an ihm vorbei wollte, imitierte er jeden Schritt, den sie, ihm rechts oder links ausweichend, machte, so dass es aussah, als stünde sie vor einem Spiegel, der zwar nicht sie, aber jede ihrer Bewegungen wiedergab. Es hätte auch ein Tanz sein können, eine seltsame Choreographie auf einem steinigen Strand, deren Rhythmus der Wind vorgab.
    Von heute aus betrachtet, ist dieser Moment am Strand kein Tanz gewesen. Von heute aus betrachtet, war der Rotblonde vielleicht der Grund, warum ich an diesem Tag nicht zurückfuhr. Aber damals dachte ich das nicht. Damals stand ich vor dem Museum, sah Inez nach und hielt mit der linken meine rechte Hand, um ihren Händedruck möglichst lange zu spüren. Vielleicht bildete ich mir ein, meine Schwindelattacken könnten, seit sie mir die Hand gegeben hatte, für immer verschwunden sein.
     
    Im Leuchtturm hatte ich ein schmales Zimmer gemietet, zuerst nur für eine Nacht, dann für die nächste. Auf diese Weise war ich eine Woche geblieben, immer nur noch für eine Nacht, für einen Tag, mein Rucksack stand gepackt in der Ecke. Jeden Abend dachte ich daran, am kommenden Nachmittag mit der Fähre zurückzufahren, jedesmal legte die Fähre ohne mich ab. Ich stand in diesem Leuchtturm am Fenster und wartete darauf, Inez vorbeilaufen zu sehen.
    Ich blieb, obwohl ich meiner Mutter versprochen hatte, ihr beim Umzug zu helfen.
    Meine Mutter hatte sich eine Wohnung im Zentrum gesucht. Bisher hatte sie noch in der Neubauwohnung aus den siebziger Jahren gelebt, in der ich aufgewachsen war, in einem dieser
Wohnklos
, wie man früher sagte, zwei Zimmer und Klo an der Ausfallstraße nach Neustrelitz. Die Wohnung war so klein, dass man im Wohnzimmer die Geräusche aus dem Bad hören konnte.
    Die neue Wohnung lag in der Altstadt, nicht weit von der Konzertkirche entfernt. Meine Mutter würde abends ausgehen können, ohne sich um Busfahrpläne oder Taxikosten kümmern zu müssen. Sie würde ins
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