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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht
Autoren: Antje Rávic Strubel
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auf die Klippen gegangen, obwohl es unsinnig und gefährlich war bei diesem Wetter. Wenn sie etwas mit ihm zu besprechen gehabt hätte, wenn sie Feldberg hätte überreden wollen, die Journalisten nach Hause zu schicken, oder ihm einen Deal hätte anbieten wollen, damit er für immer verschwand, was nicht Inez’ Art ist, aber doch denkbar wäre, hätte sie mit ihm ins Büro gehen können. Auch wenn Feldberg der Auslöser gewesen sein sollte, wenn er ihr die Akten hatte zeigen wollen, um sich mit ihr auszusprechen, was ebenso unwahrscheinlich ist, und sie sich darauf eingelassen hätte, wären sie im Büro ungestört gewesen. Sie hätten nur abzuschließen brauchen.
    Aber so kann es nicht gewesen sein.
    Feldberg musste davon ausgegangen sein, dass ihm etwas zustoßen konnte. Das beweist seine selbstgeschriebene Presseerklärung. Er hatte es einkalkuliert. Er musste damit gerechnet haben, bei Inez eine Grenze zu überschreiten, wenn er noch einmal nach Stora Karslö käme. Und er war noch weiter gegangen. Er hatte Journalisten angeschleppt, und er hatte Inez an diese Journalisten verraten, und ihm musste klar gewesen sein, dass das bei ihr Kräfte freisetzen würde, die unter Umständen nicht mehr zu beherrschen waren.
    Aber ich kenne Inez. Ich kenne sie besser als er.
    Vielleicht hatte sie es vorgehabt. Vielleicht war ihr der Gedanke in ihrer morgendlichen Verzweiflung durch den Kopf geschossen, und sie hatte Feldberg auf seinem eisigen Lager geweckt und ihn aufgefordert mitzukommen.
    Man kennt sich selbst nur als Vorstellung, die andere von einem haben
, hatte Inez einmal gesagt. Vielleicht wollte sie die Vorstellung, die einer wie Feldberg von ihr hatte, endgültig loswerden. Mir fällt keine andere Erklärung für ihren Ausflug auf die Klippen ein. Aber sie hatte ihm nichts angetan. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.
    Unklar ist auch, warum Feldberg ihr auf die Klippe folgte. Er hätte das Risiko nicht eingehen müssen. Und er wäre stark genug gewesen, sich auf der Klippe gegen Inez zu wehren.
    Es sei denn, er wollte es so. Sechzig Meter über der Ostsee. Er wollte dort oben stehen und alles, was er und sein Leben gewesen war, in Fetzen davonfliegen sehen:
Ab in den Orkus!
Und wenn Inez beteiligt gewesen sein sollte, wenn sie ihn gestoßen oder absichtlich zu nah an die Kante gelockt hatte, schien es von vornherein sein Plan gewesen zu sein, nicht zurückzukehren. Sonst hätte er der Reporterin nicht seine Tasche anvertraut.
    Auf Feldbergs Presseerklärung gebe ich nichts. Ich kenne Inez. Die Presseerklärung ist nur eine Verleumdung.
Legendierung
, wie Feldberg sagen würde. Legendierung und ein letztes großes Rätsel. Er wollte es noch einmal tun. Er wollte es noch einmal versuchen, auch wenn er die Wirkung nicht mehr erleben würde. Er wollte ein Rätsel in Inez hineintragen, ein tiefes, dauerhaftes, endgültiges Rätsel, und erst sein Tod gab diesem Rätsel Konsequenz. Über seinen Tod hinaus sollte Inez sich selbst misstrauen. Sie sollte sich fragen, ob ihre Erinnerung sie im Stich gelassen habe und ihr Leben nicht so, sondern anders verlaufen sei. Und dieser Zweifel betrifft, da ich sie liebe, auch mich.
     
    Wir haben uns nicht verabschiedet. Wir haben nicht
Auf Wiedersehen
gesagt oder uns die Hand gegeben oder umarmt.
    Inez stand am Kai. Sie trug ihre Sonnenbrille. Es war kalt. Sprühregen fiel aus einem grauweißen Himmel. Im Spiegel ihrer Brille sah ich den Kapitän, das Tau, mich. Die Sonnenbrille verdeckte die Hälfte ihres Gesichtes.
    Als wir ablegten, trat der Ornithologe neben mich. Er sah nach dort, wohin er im nächsten Jahr zurückkehren würde. Der Wind klappte ihm den Kragen auf. Er trat an die Reling. Er packte das Geländer. Er packte es fester als nötig, und für einen Moment sah es aus, als wolle er sich über die Reling schwingen. Er stand vorgebeugt und schaute zurück. Zum Leuchtturm auf dem Plateau, zu den Felsen, zur Insel, die im Nieselregen versank.
    Und ich dachte daran, dass es nicht die Jungvögel waren, die mich fasziniert hatten, mit ihren biegsamen, gut gepolsterten Körpern. Es waren die ausgewachsenen Vögel. Es war das Bild dieser Vögel auf ihrem vertrauensvollen Sturz in die Tiefe; wie sie ihre plumpen Körper an die Felskante rückten und sich fallen ließen, was für die Vögel kein Wagnis war, sondern genetisches Programm. Aber für mich war es das. Mich faszinierte dieser Moment des Vornüberkippens, mir schien es die äußerste Form des Lebens; ein Loslassen
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