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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht
Autoren: Antje Rávic Strubel
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skandinavischen
Weicheisozialismus
aufgeregt zu haben. Gekoppelt an eine konsumgeile, überempfindliche Zivilisation führe er nur zu einer Verkehrung unseres natürlichen Ursprungs, er würde die Leithengste, die eine Gemeinschaft zusammengehalten hätten, bloß durch Leitstuten ersetzen. Man müsse aber viel weiter gehen, fand Guido. Man könne diese Gesellschaft nur durch ihre völlige Umstrukturierung retten, durch die Annäherung an eine uns fremde Organisationsform des Natürlichen, wie sie in der Fisch- und Vogelwelt und bei den Insekten vorkomme. Das setze allerdings einen Kraftakt voraus, zu dem kein einzelnes menschliches Wesen in der Lage wäre. Und da ein Zusammenschluss mehrerer menschlicher Wesen immer auf Zerstörung hinauslaufe, sei die Hoffnung gering, sich jemals mit Fischen oder Vögeln vergleichbar zu machen.
Mit einer Horde Rindviecher aber schon
, war mit Bleistift an den Rand notiert. Der Akte liegen Ausdrucke von schwulen Anzeigenseiten aus dem Internet bei, auf denen Guido mit geöltem nacktem Oberkörper oder erigiertem Schwanz posiert.
    Schwachstellen, durch die der Wind pfeift.
    Ich bin froh, dass ich die Tasche mitgenommen habe. Nicht, weil ich jetzt weiß, was ich im Sommer dringend wissen wollte. Nicht, weil die Akten, den Händen der Journalisten entrissen, wertlos wären. Ich habe nicht vor, sie weiterzugeben. Aber darauf kommt es auch nicht an. In einer blassen Unterzeile entdeckte ich die Adresse einer homepage: www.megaoperation& riskprotection.de. Es sieht so aus, als habe Feldberg die Berichte eingescannt und ins Internet gestellt. Wenn er sie freigeschaltet hat, sind sie schon für jeden zugänglich, während ich noch hier auf der Fähre bin. Man braucht nur den Namen Felix Ton in eine der Suchmaschinen einzugeben.
    Ich bin froh wegen Inez. In den Akten findet sich erstmal nichts über sie. Ich habe sofort danach gesucht, habe jedes Blatt nach ihrem Namen durchgecheckt, aber Feldberg hat ihren Namen kein einziges Mal erwähnt. Wenn von Inez die Rede ist, heißt es immer Dohle.
Dohles produktives Verhältnis zur Angst.
    Auch über ihr Verhältnis zu mir findet sich nichts. Ich weiß, dass Feldberg uns hatte hören können, Inez und mich, wenn wir draußen saßen auf dem Plateau. Er hätte mitschreiben können. Er hätte auch das Gespräch aufschreiben können, das wir vor seiner Abreise zu dritt hatten, Ende Juli oder Anfang August. Aber das alles schien er nicht als
nutzbringendes
Material zu betrachten.
    Sieht man sich seine peniblen Aufzeichnungen an, die er über die anderen angelegt hat, wirkt die Auslassung von Inez beinahe wie eine Strategie. Eine Strategie, mit der auch das einzige Schriftstück in Feldbergs Tasche zu tun haben muss, auf dem Inez eine prominente Rolle spielt. In der Reißverschlusstasche, die die großen Fächer voneinander trennt, steckte ein zugeklebter Umschlag. Der Umschlag ist adressiert an die Deutsche Nachrichtenagentur. Im Umschlag befindet sich eine Pressemitteilung. Sie ist handschriftlich verfasst, einiges ist schwer zu entziffern. Es sieht aus, als wäre der Text eilig geschrieben geworden, in der Bahn, im Flugzeug, unterwegs. Wenn die Reporterin diesen Umschlag gefunden hätte, hätte sie nicht so ruhig beim Frühstück gesessen.
    Rache wegen IM -Enttarnung. Wegen einer bevorstehenden Enttarnung als ehemalige inoffizielle Mitarbeiterin stürzte Inez R. ihren damaligen
    Führungsoffizier, Stasioberst Rainer Feldberg, auf einer schwedischen Insel von den Klippen. Unter dem Decknamen »Dohle« hatte er sie damals in seinen Akten geführt. Berichten seiner Lebensgefährtin zufolge war Feldberg auf die Insel gekommen, um Inez R. mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren. Er versprach sich davon Aussöhnung und seelischen Frieden. Als er jedoch feststellte, dass Inez R. mit ihrem Sohn wissentlich ein inzestuöses Verhältnis hatte, wollte er damit an die Öffentlichkeit gehen, um vor den perversen Auswüchsen zu warnen, die ein totalitärer Staat auch nach seinem Untergang noch auf das Bewusstsein der Menschen hat. Bei dem Sohn soll es sich um das bislang verschollene Kind des Brandenburger Direktkandidaten der CDU für den Bundestag, Felix Ton, handeln.
    Laut Angaben der schwedischen Polizei wird der Leichnam zügig nach Greifswald, in die Heimatstadt Feldbergs, überführt.
    Inez wäre nie freiwillig mit Rainer Feldberg in die Felsen gegangen. Sie wäre mit ihm nirgendwo freiwillig hingegangen. Und sie hatte es doch getan. Sie war mit Feldberg
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