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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht
Autoren: Antje Rávic Strubel
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hatten sich vorübergehend abgesetzt. Sie waren auf Weltreisen unterwegs. Hinterher würden sie mit ihren exotischen Abenteuern protzen und mich fragen, ob ich mich nicht zu Tode gelangweilt hätte da oben im menschenleeren Norden. Ich beneidete sie nicht.
    Ich war nach Gotland gefahren. Ich war durch die Landschaft gestreift, und die Landschaft mit ihrem Kalkstein, ihrem struppigen Bewuchs, mit ihren verlassen daliegenden Plateaus, den versandeten Tümpeln und Klappersteinfeldern, auf denen es hunderte Millionen Jahre alte Fossilien gab, hatten mich in Trance versetzt. Ich ließ mich treiben.
    Es war die Zeit nach meinem Aushilfsjob in einem Jugendprojekt; verglichen mit dem Zivildienst im Altenheim war das eine leichte Arbeit gewesen, auch wenn es täglich neun Stunden Lärm bedeutete, Drogen bedeutete, Messerstechereien und täglich entweder die Polizei oder das Jugendamt, täglich Rap oder Techno, täglich die Frage, ob du ein Hopper oder ein Emo bist, denn Emos sind schwarzgekleidete Schwulis,
schwule Chorkinder, du Arsch,
auch das täglich, täglich
ich hab deine Mutter gefickt
, überhaupt
deine Mudder
und
willste was aufs Maul
, und erst hier, unter Kiefern und Ostseewind, ließ die Erinnerung daran nach. Die Einsamkeit, die langen Tage, die Stille in den kleinen Ortschaften entspannten mich.
    Am Ende der Woche hatte ich in einem Touristenbüro einen Tagesausflug gebucht; eine geführte Tour auf eine Insel, die der Westküste Gotlands vorgelagert war. Ich hatte Lust, wieder mit jemandem zu reden. Wo es hinging, interessierte mich nicht.
    Im Hafen von Klintehamn stand ein Kiosk, in dem schon lange nichts mehr verkauft wurde. Die Fenster waren vernagelt, eine verwaschene Preisliste für Lachs und Heringe hing noch am Holz. Der Parkplatz war schattenlos und leer. Am Kai, an dem das Boot zur Insel ablegen sollte, warteten zwei Frauen mit Wanderstöcken und Knickerbocker, Finninen, wie sich herausstellte. Andere Fahrgäste waren nicht zu sehen. Die Finninen verstanden kein Englisch. Sie sprachen schwedisch mit mir. Vielleicht dachten sie, es würde die Verständigung erleichtern, wenn beide Seiten eine ihnen fremde Sprache benutzten. Das war nicht der Fall. Sie glotzten mich an, als sie kapierten, dass ich nichts verstand. Später banden sie ihre Kopftücher ab. Die Haare darunter sahen aus wie das trockene Moosgeflecht, das sich hier zäh auf den Felsen hielt. Im Passagierraum der Fähre saß eine Familie. Die Großeltern sahen vor sich auf den Tisch, die Mutter schlief, dem Kleinkind lief Rotz übers Kinn.
    Als der Bootsmann die Taue löste, kam noch ein Mann über den leeren Parkplatz gerannt. Er riss die Arme hoch. Der Kapitän ließ den Motor im Leerlauf stampfen, bis der Mann an Bord gesprungen war. Er trug eine abgewetzte schwarze Arzttasche. Er war verschwitzt. Das rotblonde Haar klebte ihm an der Stirn, der Sommeranzug hatte Flecken. In der Tür zur Passagierkabine blieb er stehen, als nehme er Witterung auf. Er starrte zuerst die Großfamilie an, dann mich. Ich sah diesem Idioten in die Augen,
ey, du Chorkind, was aufs Maul?
, bis er sich auf eine der vorderen Bänke setzte.
    Nach einer knappen Stunde drehte die Fähre vor der Insel bei. Am Ufer ragte eine Felswand auf. Ihr Schatten fiel auf die Ostsee. Dort, wo kein Schatten war, leuchtete das Wasser türkisblau, am Strand verstreut standen ein paar Holzhütten.
    Eine Frau in Khakishorts lief zur Anlegestelle. Sie lief auf die Kaimauer zu. Als sie den Steg erreichte, waren die weißen Träger ihres BH s unter dem Shirt zu sehen. Das Weiß blitzte. Es war weißer als der Sand, weißer als die Farbe der Kalksteine, weißer als das Boot.
    Einer der zwei Jungen, die am Ufer standen, fing das Tau und befestigte es an einem Boller. Auf den olivgrünen Shirts, die sie trugen, war der Schriftzug »Stora Karlsö« zu sehen.
    Die Frau war schlank. Ihre Arme sahen trainiert aus. Wind und Salzluft hatten ihre Haare gebleicht. Ihre Haut war sonnengebräunt. Aber etwas in ihrer Haltung verriet, dass sie in Stadtwohnungen aufgewachsen war.
    Ich sah durch die verschmierten Fenster und dachte daran, dass ich schon heute Nachmittag zurückfahren musste, dass die Fähre bereits um fünf wieder ablegte, dass ich nur sechs Stunden Zeit auf dieser Insel hätte, ich dachte daran, wie wenig das war, wie knapp dieser Ausflug kalkuliert war.
    Auf der Kaimauer lagen Taue und Haken, die Frau stand in der Mitte zwischen Boot und Strand. Jeder, der ausstieg, kam sehr dicht an ihr
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