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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Mittlerweile erfasste ich sogar, wenn es um einen Raubmord in der Nähe von Uppsala ging, einmal hatten zwei Jungen eine vierköpfige Familie in Stockholm mit Küchenmessern erstochen, ein andermal hatte die Integrationsministerin, eine zierliche, schwarze Frau, von den Ausländern in Schweden größere Anpassungsbereitschaft verlangt. Mein Schwedisch bestand hauptsächlich aus Zeitungsvokabular.
    Der Rotblonde trottete in meine Richtung über den Strand. Er hatte Mühe, über die rutschigen Felsen hinaufzukommen. Er blieb stehen und gestikulierte. Aber ich tat, als wäre ich an den Wolkenformationen am Horizont interessiert, und ging dann wie absichtslos auf der anderen Seite der Bucht zum Museum hinauf.
    Sie war schon dort. Sie saß auf einer Bank in der Sonne. Sie hatte sich an die Hauswand gelehnt, einer der Scouts stand vor ihr und sah ihr andächtig zu, wie sie beim Reden immer wieder ordnend in die Luft griff.
    Als sie mich bemerkte, hielt sie mir die Hand hin und sagte auf Englisch: »Inez. Betonung auf dem e.«
    Ich zögerte. Meine Hand schwitzte. Aber sie griff umstandslos zu. Ihr Händedruck war kräftig. Sie musste sich während ihrer Zeit auf der Insel, in der sie mit Männern und Vögeln arbeitete, diesen Händedruck angewöhnt haben. Er war eine sachliche Angelegenheit. Ich musste unwillkürlich daran denken, wie sie mit derselben Hand Vögel beringte, wie sie den Vögeln ins Gefieder griff, wie die Krallen ihre Finger umschlossen.
    »Man könnte meinen, hier ist nicht viel los«, sagte sie. »Aber ich bin jetzt schon drei Jahre hier. Und es gibt immer was Neues.« Sie sah mich an. »Jungs wie du fahren doch lieber als Fruitpicker durch Australien!«
    »Deshalb bin
ich
hier.«
    »Was Besonderes also.« Sie tippte mit dem Finger anerkennend auf einen Punkt in der Luft.
    »Ich habe keinen Bock auf Himalayas oder prekäre Lebensverhältnisse oder irgendeine abgefahrene Kultur.«
    »Und ich wette, du bist auch nicht vom Bullerbü-Syndrom befallen«, sagte sie.
    »Ich hatte mal Scharlach als Kind.«
    Sie lachte. »Bullerbü ist Kitsch. Volkstümliche Verharmlosung. Aber du hast recht. Das kann hoch ansteckend sein. Wenn du willst, können wir übrigens aufhören, englisch zu reden«, sagte sie dann auf Deutsch. »Ich habe mich schon so daran gewöhnt, dass ich es manchmal vergesse.«
    »Dann hättest du die Einführung auf Deutsch mit mir machen können.«
    »In deiner Gruppe dürfte das außer dir keiner verstehen.«
    »Es ist nicht meine Gruppe«, sagte ich.
    »Auch noch ein Einzelgänger!« Sie lachte wieder und sagte auf Schwedisch etwas zu dem Scout, der im Museum verschwand und mit dem Modell eines großen, schwarzen Vogels zurückkam.
    »Du bist doch auch nicht die einzige Deutsche hier, oder? Und trotzdem sind es nicht
deine
Leute.«
    »Du glaubst gar nicht, wie viele deutsche Forschungsprogramme es in Skandinavien gibt.« Sie klappte die Flügel des Modells auf. »Die skandinavischen Forscher wandern deshalb schon in die USA ab. Deshalb oder weil sie den Regen satt haben«, sagte sie. »Sie haben den Regen satt, und wir Deutschen wollen die Naturidylle, den Bullerbü-Kitsch. Und jeder von uns tut so, als gebe es für unser Herumwandern irgendeine wissenschaftliche Notwendigkeit.« Sie stellte den Vogel mit geöffneten Schwingen auf die Bank. Die anderen kamen den Pfad zum Museum hinauf. »Wir alle gehen einfach dahin, wo es uns am besten gefällt. Die passende Notwendigkeit fällt uns schon ein.«
    »Dann ist das hier ein heißes Forschungspflaster«, sagte ich.
    »Was ist daran heiß?«
    »Ich kann vor meinen globalisierten Kumpel mit den Forscherinnen auf Gotland protzen!«
    »So jung und schon so gezielt auf Brautschau«, sagte Inez ironisch und stand auf. Ich kam mir idiotisch vor. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich muss dich trotzdem wieder Guido überlassen.«
    Sie hatte Guido an diesem Tag die Führung der Tour übertragen, weil an ihrem Minitraktor die Kette gerissen war. Der Fährkapitän hatte ihr vom Festland eine neue mitgebracht und wollte sie einbauen, bevor er wieder ablegte. Als sie hinunter zum Kai ging, drehte sie sich noch einmal um. »Erik!«, rief sie und betonte das i, so dass auch mein Name auf einmal spanisch klang. »Im Museum liegen Infoblätter auf Deutsch. Nimm dir eines. Sie sind schlecht übersetzt, aber da steht alles drauf, was du wissen musst.«
    Ich hatte mir eines genommen, und sie waren schlecht übersetzt, aber nichts von dem, was ich hätte wissen müssen,
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