Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht
Autoren: Antje Rávic Strubel
Vom Netzwerk:
warten die Altvögel, bis es dunkel wird.«
    »Hier wird’s doch nie dunkel«, sagte ich, legte den Rucksack auf die Bank und setzte mich daneben. »Sie haben also nur die Wahl, lebendig gefressen zu werden oder sich das Genick auf den Felsen zu brechen.«
    »Sie brechen sich nicht das Genick, Erik. Die Natur hat ihre eigene Logik. Die kleinen Vogelkörper sind gepolstert. Sie haben eine Art Luftkissen um die Knochen. Wie ein Airbag. Das ist eine Attraktion. Überleg’s dir.« Sie klappte den Aktenordner zu und legte eine Hand auf den Deckel. »Du bist keiner von diesen Hobbyornithologen, oder? Gut. Das sind nämlich die ganz Schlauen. Man sagt ihnen, Jungs, ich hab das studiert, und trotzdem glauben sie, ihre Feldstecher um den Hals machen sie zu den wahren Spezialisten.«
    Sie trug einen breiten, silbernen Ring. Der Ring ließ ihre Hand schmal erscheinen. Es sah aus, als sei das Aderngeflecht ihres Handrückens an ihm befestigt wie die Schiffstaue an den Eisenringen am Hafen.
    »Wenn du mich mit zu den Klippen nimmst«, hatte ich zu Inez gesagt und meine Stimme nicht ganz im Griff gehabt, »bleibe ich hier.«
    »Sobald die Sonne untergegangen ist.«
    Damals bildete ich mir ein, alles mit Sicherheit zu wissen. Und ich hätte das jedem, der es hätte hören wollen, auch mitgeteilt.
     
    Ich bezog ein Zimmer im Leuchtturm. Ich öffnete das Fenster und sah lange über die Klippen aufs Meer. Am Ufer war das Wasser tiefblau, ehe es weiter draußen in immer dunklere, fast schwarze Farbschatten verlief, dann lichter wurde, silbern, und in der Ferne gleißend hell an den Horizont schloss. Es roch nach Tang und dem Holz der Fensterläden. Ich atmete tief die salzige Luft ein und hatte das Gefühl, dass etwas Neues begann, und ich sagte mir, wie dumm das war, wie pathetisch, wo es sich, nüchtern betrachtet, nur um Chemie handelte, um das Vorgefühl von Verliebtheit, denn ich war sicher, dass es das war, aber in dieser Stärke hatte ich eine solche Ahnung noch nie gehabt. Ich erinnere mich sehr genau an diesen Moment am Fenster. Ich war allein, vor mir die Ostsee, so weit, bis sie außer Sicht geriet, sich auflöste ins Nichts und auch ich mir losgelöst vorkam, schwebend, und gleichzeitig hatte ich das warme Holz unter den Händen, das mir ein Gefühl von Festigkeit und Stabilität gab, das Gefühl, den eigenen Körper gut auszufüllen.
    Dieser Moment hat auch jetzt, wo alles vorbei ist, noch immer die gleiche Stärke. Er könnte ebensogut der Anfang gewesen sein.
    Auf dem Bett lagen zwei Handtücher aus grobem Stoff. Ein Stück Seife lag in Papier gewickelt darauf. Ich wusch mir Hände und Gesicht und überlegte kurz, mich zu duschen, ehe ich bemerkte, dass es im Zimmer keine Dusche gab. Also zog ich mich bis auf die Unterhosen aus und spritzte mir Wasser über den Körper. Ich wollte sicher sein, dass keine Spur von meiner Panikattacke zurückblieb. Im Hafen legte die Fähre ab.
    Ich hatte Inez gesagt, dass mir ihr Name gefiel, dass es mir gefiel, wie sie ihn betonte, und ich hatte sie gefragt, ob sie sich das extra ausgedacht hätte, und sie hatte gesagt: »Ist dein Name nicht ausgedacht?«
    Ich hatte ihr gesagt, dass meine Mutter mich nach meinem Großvater benannt hatte, und Inez hatte gesagt: »Na siehst du. Da hat sich doch auch jemand etwas für dich ausgedacht.«
    Gegen elf Uhr abends hatten wir uns vor dem Museum getroffen. Die Sonne war untergegangen, überzog den Himmel aber noch mit orangefarbenem Licht. Auch um Mitternacht wurde es nicht dunkel. Inez hatte trotzdem eine Taschenlampe dabei. Sie trug Jeans und eine dunkelgrüne Jacke, später setzte sie ein Basecap auf. Wacholderbüsche standen am Weg. Ihre Umrisse waren gezackt wie die Ränder von Briefmarken. Je näher wir den Klippen kamen, desto schärfer roch die Luft. Die Steine waren weiß von Kot. Man hörte die Vögel. Anfangs klang es noch wie Geschrei aus Vogelkehlen, brüchige, hohe, einsilbige Laute, dann wurden die Schreie schriller. Es klang, als zerfetze ein schmaler Bohrer die Luft, als schneide sich Metall in Gestein und kreische im Abgleiten auf. Man konnte die Schatten der Vögel sehen, wenn sie auf den Felsvorsprüngen starteten und landeten, und ich sehe sie jetzt, während die Fähre sich immer weiter entfernt, wie schmelzende Kreuze über die Wellen gleiten.
    »Pass auf, wo du hintrittst, Erik. Hier sind überall Felsspalten.«
    »Ich habe schon lange keine Nachtwanderung mehr gemacht. Fehlen nur die Gespenster.«
    »Mach die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher