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Sturm

Sturm

Titel: Sturm
Autoren: Claudia Kern
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Anas Familie stets angab, wenn sie auf das Heiratsangebot von Fürst Otar angesprochen wurde. Die Briefe mussten sich überschnitten haben, Fürst Balderick von Westfall hatte nur wenige Tage zuvor im Namen seines Sohnes vorgesprochen, man war untröstlich über die voreilige Entscheidung, aber sicherlich würde Fürst Otar verstehen, dass man sie nicht mehr rückgängig machen konnte. Ana hatte die Geschichte oft erzählt. Die Wiederholung der Floskeln gab ihr Sicherheit, so als würde sie ein sorgfältig gelerntes Gedicht aufsagen.
    »Euer Sohn ist ein guter und anständiger Mann«, sagte sie und brachte sogar den Mut auf, dem Fürsten in die Augen zu sehen. »Die Fürstentochter, die sein Herz für sich gewinnt, kann sich glücklich schätzen. Ich bedaure, dass ich es nicht sein werde.«
    In Wirklichkeit war Uz, Otars Sohn, ein berüchtigter Trinker, der schon mit seinen knapp neunzehn Jahren die Körpermaße seines Vaters angenommen hatte und zu jähzornigen Ausbrüchen neigte. Ana war froh, dass er weit weg am Tisch der jungen, unverheirateten Krieger saß.
    Otar schüttelte den Kopf. »Du verlogene kleine Schlampe.« Er sprach so leise, dass Ana im ersten Moment glaubte, ihn missverstanden zu haben. Doch dann wiederholte er den Satz noch einmal lauter, als begänne er Gefallen daran zu finden. »Verlogene kleine Schlampe. Du würdest den Kadaver eines Ebers ehelichen, wenn dich das nach Westfall brächte!«
    Seine Worte hallten durch den Saal. Blicke richteten sich auf den Fürsten, Münder schlossen sich.
    Otar stand auf. Er schwankte und musste sich mit einer Hand an der Tischkante abstützen, während er mit der anderen seinen Weinkelch hob.
    »Einen Trinkspruch!«, brüllte er durch den Saal. Auch die letzten Unterhaltungen verstummten. Diener und Musikanten blieben stehen. Das Klappern von Geschirr erstarb.
    Otar ließ seinen Blick über die Gesichter der Gäste gleiten. »Lasst uns trinken auf das Ende der Heuschrecken, die über das Land herfallen.« Er sah Ana an. »Und auf das Ende ihrer Brut.«
    Gerit sprang mit einem wütenden Schrei auf. Sein Leibwächter legte ihm die Hände auf die Schultern und drückte ihn zurück auf seinen Stuhl.
    »Noch sind sie hier«, sagte Otar, »aber der nächste Sturm wird sie davonwehen. Trinken wir auf diesen Sturm!«
    Er hob den Kelch hoch. Rotwein schwappte über den Rand und tropfte auf seinen Kopf. In langen roten Bahnen lief er über sein Gesicht.
    »Trinken wir auf den Sturm!«, brüllte Otar.
    »Ja.« Eine Stimme, die fast wie seine eigene klang, antwortete ihm. Uz erhob sich schwerfällig und schwankend. Der Kelch in seiner Hand zitterte. »Auf den Sturm!«
    Die anderen Krieger rückten von ihm ab, als fürchteten sie, ihre Nähe allein gäbe ihm Unterstützung. Die Blicke aller im Saal richteten sich auf Fürst Lennard. Otar und Uz hatten ihn in seinem eigenen Haus beleidigt. Das Gesetz gab ihm das Recht, sie zum Duell zu fordern oder ihnen den Krieg zu erklären. Ana hoffte, er würde beides tun.
    Der Fürst von Somerstorm erhob sich. Er war kein großer Mann und wirkte in den schweren goldbestickten Roben, die er trug, beinahe verloren, als sträube sich sein Körper gegen das Amt, das der Geist ihm aufgezwungen hatte.
    Er sah weder Otar noch Uz an, die immer noch mit erhobenen Kelchen an ihren Plätzen standen. Stattdessen wandte er sich den Künstlern am anderen Ende des Saals zu und klatschte einmal kurz in die Hände.
    »Musik«, sagte er und setzte sich.
    Grom, der Zwerg, nickte. Die Trommler, die hinter ihren großen Beckentrommeln standen, begannen sofort einen Rhythmus vorzugeben. Die Flötenspieler verneigten sich, dann setzten sie ihre Instrumente an die Lippen. Sie waren so nervös, dass sie zwei verschiedene Melodien spielten, ohne es zu bemerken.
    Otar und Uz standen noch einen Moment reglos da, dann schleuderte der Fürst seinen Kelch zu Boden. Es schepperte laut. Rotwein spritzte. Dann drehten sich beide Männer um und gingen zu den großen, offen stehenden Türen. Auf seinem Weg dorthin riss Uz zwei Stühle und einen Diener um.
    Ana hielt den Kopf gesenkt. Niemand sollte die Schamesröte sehen, die ihr ins Gesicht gestiegen war.
    Die schrägen Melodien der Musikanten hallten durch den Saal, täuschten über die Stille der Gäste hinweg. Ana konnte sich das geheuchelte Mitgefühl auf ihren Gesichtern vorstellen und die Gier, mit der sie insgeheim darauf brannten, untereinander über die Schmach herzuziehen, die Anas Vater seiner Familie
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