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Sturm

Sturm

Titel: Sturm
Autoren: Claudia Kern
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zugemutet hatte. Sie konnte es sich vorstellen, weil sie an ihrer Stelle genau das Gleiche getan hätte.
    Das Lied der Musikanten endete mit einem letzten ersterbenden Flötenton. Die fünf Männer verneigten sich und sahen einander an. Keiner von ihnen wagte es, den Blick auf das schweigende Publikum zu richten.
    Ein Stuhl wurde zurückgeschoben. Ana hob den Kopf, bis sie sehen konnte, dass Norhan, der alte General ihres Vaters, aufgestanden war. Seine Paradeuniform war ebenso grau wie sein Haar.
    »Steht ein Sarg in diesem Saal?«, fragte er. »Liegt hier ein Toter, der an eurer Fröhlichkeit Anstoß nehmen könnte?« Er lächelte, als einige der Gäste den Kopf schüttelten. »Worauf wartet ihr dann noch? Esst, trinkt und tanzt, um der Fürstentochter von Somerstorm zu zeigen, dass ihr euch mit ihr über ihren Festtag freut.« Er nickte den Dienern zu. »Bringt mehr Fleisch und geizt nicht mit dem Wein. Für jeden leeren Kelch, den ich an diesem Abend sehe, gibt es zehn Stockschläge.«
    »Es wird keine Klagen geben, Herr«, sagte Peck, der Hauptdiener, rasch.
    »Davon bin ich überzeugt. Musikanten, spielt ›Das Frühlingslied des Hirten‹, wenn es euch vertraut ist.«
    »Das ist es, Herr.« Die Erleichterung im Gesicht des Trommlers war nicht zu übersehen. Er flüsterte den Flötenspielern etwas zu und begann in schnellem Rhythmus zu trommeln. Er hatte kräftige, stark behaarte Arme und ein vernarbtes Gesicht.
    Norhan klatschte übertrieben fröhlich in die Hände und stimmte die Melodie an, noch bevor die Flötenspieler eingesetzt hatten. Seine Offiziere schlossen sich ihm auf einen Blick an, nach und nach folgten die anderen Gäste. Einige junge Krieger standen von ihren Plätzen auf und gingen auf die Mädchen zu, um sie zum Tanz aufzufordern. Keiner von ihnen blickte in Anas Richtung.
    Ein Schatten fiel über sie. Im ersten Moment dachte sie, es sei ihr Leibwächter, der den ganzen Abend noch kein Wort gesprochen hatte, doch als sie aufsah, blickte sie in das Gesicht ihres Vaters.
    Er lächelte. »Morgen werden sie es alle bereits vergessen haben«, sagte er so leise, dass sie ihn gerade noch im Lärm der Musik verstehen konnte. »Glaub mir.«
    Mühsam hielt sie ihre Tränen zurück. Er schien nicht zu begreifen, wie tief die Beleidigungen saßen, die Otar ausgesprochen hatte, und wie hämisch seine Gäste darauf reagiert hatten. Auch jetzt beobachteten sie den Fürsten und seine Tochter, versuchten wohl in ihren Gesichtern zu lesen.
    Ana erwiderte das Lächeln ihres Vaters. »Sie werden es nie vergessen«, sagte sie leise. »Ihr habt zugelassen, dass dieser schreckliche alte Mann Eure Tochter eine Schlampe nennt. Wie konntet Ihr das erlauben?«
    Sein Lächeln war so falsch wie das ihre. »Du wirkst müde«, sagte er nach einem Moment. »Du hast meine Erlaubnis, dich zurückzuziehen.«
    »Wie Ihr wünscht.«
    Sie spürte die Blicke der anderen, als sie sich erhob und den Saal verließ. Hinter ihr schlossen Diener, deren Gesichter ihr fremd waren, die Türen. Tränen der Scham und der Wut brannten in ihren Augen. Ihr Vater schickte sie zu Bett wie ein nörgelndes Kind, dabei hatte er diese Situation verschuldet. Wenn nur Rickard hier gewesen wäre. Er hätte niemals zugelassen, dass seine Verlobte und ihre Familie beleidigt wurden. Rickard war auf den Schlachtfeldern des Krieges aufgewachsen. Er wusste, was Ehre bedeutete.
    Die Musik wurde leiser, Anas Schritte schneller. Sie hallten durch die dunklen Steingänge, dicht gefolgt von denen ihres Leibwächters. Es war kein Diener zu sehen. Wer nicht im Bankettsaal eingesetzt wurde, arbeitete in der Küche. Der Rest der Burg war verlassen.
    Als Ana sicher war, dass niemand in ihrer Nähe war, fuhr sie herum. Ihr Leibwächter prallte beinahe gegen sie. Mit einer gemurmelten Entschuldigung trat er einen Schritt zurück.
    »Warum hast du nichts unternommen?«, fuhr sie ihn an.
    Er blinzelte. »Mefrouw?«
    Er nannte sie bei ihrem Somerstorm-Titel, aber seine Größe verriet, dass er nicht aus dieser Gegend stammte. Die Menschen von Somerstorm waren klein und gedrungen, er hingegen groß und hager.
    »Du bist mein Leibwächter, wieso hast du nichts gegen Fürst Otar und seine Beleidigungen unternommen?«
    »Es ging nicht um Euer Leben.«
    »Aber um meine Ehre.«
    »Eure Ehre ist nicht meine Sorge.«
    Seine Unverschämtheit raubte Ana fast den Atem. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie sollte aber deine Sorge sein«, sagte sie, »wie alles, was mich
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