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Sturm

Sturm

Titel: Sturm
Autoren: Claudia Kern
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betrifft.«
    Er schwieg. Die Schatten des Gangs verhüllten sein Gesicht. Den ganzen Abend hatte er hinter Ana gestanden, aber sie hatte nicht darauf geachtet, wie er aussah. Wichtigere Dinge hatten ihre Aufmerksamkeit erfordert.
    »Wie heißt du?«, fragte sie.
    »Jonan, Mefrouw.«
    »Jonan, ich werde deine Unverschämtheit morgen früh dem Kastellan melden.« Sie wandte sich ab und ging tiefer in den Gang hinein. »Er wird entscheiden, was mit dir …«
    »Seid still.«
    Er stand plötzlich vor ihr und blockierte den Weg. Ana wollte sich an ihm vorbeidrängen, befürchtete plötzlich, ihn provoziert zu haben. Sie kam zwei Schritte weit, dann holte er sie ein.
    »Seid still.« Jonans Worte waren nicht mehr als ein Zischen an ihrem Ohr. Sein Körper war so dicht neben ihr, dass sie seine Anspannung spüren konnte. »Lauscht.«
    Sie blieb stehen. Im ersten Moment hörte sie nur ihren eigenen Herzschlag, dann Jonans Atem und entfernte Musik. Die Türen des großen Saals mussten offen stehen, sonst hätte man die Klänge nicht so tief in den Gängen hören können.
    Sie erkannte die Melodie, die die Musikanten angestimmt hatten, den »Klagegesang des gierigen Bauern«. Das Lied erzählte die Geschichte eines Mannes, der eine Goldader findet, sie nicht mit seinen armen Brüdern teilt und durch diese Gier ins Unglück gestürzt wird. Ana fand es merkwürdig, dass Musikanten gerade dieses Lied an einem Hof spielten, dessen Wohlstand allein dem Gold zu verdanken war. Doch die Gäste schien das nicht zu stören. Sie sangen mit. Ana hörte ihre Stimmen bis in den Gang hinein. Sie sangen durcheinander, als würde jeder seiner eigenen Melodie folgen, ohne auf die anderen zu achten. Laut und schräg klangen sie.
    Kreischend.
    »Sie schreien«, flüsterte Ana. Ihre Lippen begannen zu zittern. Irgendwo schlugen Türen. »Wieso schreien sie?«
    »Wartet hier.« Jonan löste sich aus den Schatten. Der Fackelschein spiegelte sich in den langen, gekrümmten Klingen in seinen Händen. Ana hatte nicht gehört, dass er sie gezogen hatte.
    »Ich komme mit«, sagte sie. Die entfernten Schreie dröhnten in ihren Ohren. »Ich bleibe nicht allein hier.«
    Er drehte den Kopf. Sie sah Ablehnung in seinen Augen, dann so etwas wie Verständnis. »Folgt mir.«
    Obwohl die Fackeln in regelmäßigen Abständen brannten, schien der Gang, durch den sie zurückgingen, dunkler und enger geworden zu sein. Eine Männerstimme brüllte über die Musik hinweg und verstummte so plötzlich, als habe man eine Tür geschlossen. Der »Klagegesang des gierigen Bauern« erstarb, nur die Trommeln schlugen ungerührt weiter ihren Rhythmus.
    »Wir müssen zu meinem Vater«, sagte Ana. »Er wird wissen, was hier geschieht.«
    Jonan schwieg.
    Ana wünschte sich, sie hätte sein Gesicht sehen können, aber er drehte ihr den Rücken zu. Die Angst krampfte ihren Körper zusammen.
    »Es wird doch alles gut, oder?« Sie wusste, dass sie wie ein kleines Kind klang. Es war ihr egal.
    Jonans gleichmäßige Schritte stockten. »Natürlich.«
    Ana hörte die Lüge in seiner Stimme.
    Der Bankettsaal war nur noch zwei Biegungen entfernt. Die Trommeln waren jetzt lauter als ihr Herzschlag. Es roch nach gebratenem Fleisch. Ein zweiter, seltsam metallischer Geruch mischte sich darunter. Etwas schabte über den Boden wie eine Schwertspitze, die über Stein kratzt.
    Jonan blieb stehen. »Lauft.«
    Ana schüttelte den Kopf. »Allein gehe ich …«
    »Lauft!«
    Vor ihr verlöschten die Fackeln. Dunkelheit stürzte Ana entgegen. Erschrocken wich sie zurück, drehte sich um und begann zu rennen. Ihre Ledersohlen schlugen im Rhythmus der Trommeln auf den Stein. Sie wagte es nicht, dorthin zurückzublicken, wo die Schwärze Jonan verschluckt hatte, glaubte, sie würde erstarren, wenn sie sah, was sich darin verbarg.
    Eine Biegung nach der anderen ließ sie hinter sich. Ihre Kehle brannte, ihre Seiten stachen. Sie hörte jemanden schluchzen. Erst nach einer Weile begriff sie, dass sie es selbst war.
    Der Gang endete in einer Tür, die zum Ostturm führte. Sie stand offen, aber Ana bog nach links ab, lief tiefer in die Burg hinein, den Gemächern ihrer Eltern entgegen. Sie hörte keine Schreie mehr, keinen Lärm. Alles war still.
    Als Ana den Schatten sah, war es bereits zu spät. In vollem Lauf prallte sie gegen ihn und wurde zurückgeschleudert. Etwas schlug gegen ihren Hinterkopf. Sie lag auf einmal auf dem Boden, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war.
    Ein verschwommenes Gesicht
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