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Sturm

Sturm

Titel: Sturm
Autoren: Claudia Kern
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einigen Wochen lebten, und den ganzen menschenleeren, trostlosen Norden. Sein Vater hatte gesagt, es sei wichtig, dass sie den Süden verließen, aber Craymorus verstand nicht, warum das so war. Es hatte wohl etwas mit dem Roten König und dem Krieg zu tun.
    »Ich will nach Hause.« Seine Stimme klang weinerlich. Craymorus wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen. Man zeigte keine Schwäche in Gegenwart anderer.
    »Wolltest du nicht die Ungeheuer sehen?«
    Er zog die Nase hoch. »Ja.«
    Beinahe hätte er vergessen, dass sie deswegen aufgebrochen waren. Stunden waren seitdem vergangen. Der Tag war der Nacht gewichen.
    »Sind sie hier?«, fragte er.
    »Siehst du sie denn?«
    Craymorus blinzelte Tränen aus seinen Augen und starrte in die Dämmerung. Der Wald war still. Die Vögel hatten längst aufgehört zu singen.
    »Siehst du sie jetzt?«
    Craymorus kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich mit aller Kraft, zwang sich dazu, die Ungeheuer zu entdecken. Er suchte sie in der Dunkelheit, wo die Nacht mit den Schatten verschmolz, und er suchte sie in der Luft, weil Jerzebal, seine Zofe, erzählte, die Ungeheuer kämen mit dem Wind über das Land.
    Jerzebal nannte sie Nachtschatten. Craymorus' Vater nannte sie Spinnerei.
    »Sind sie wirklich hier?«, fragte Craymorus. »Mein Vater sagt, dass sie schon lange tot sind.«
    »Dein Vater ist ein Narr.«
    Unwillkürlich wich Craymorus vor dem Hass, der in den Worten lag, zurück.
    »Ist er nicht«, war das Einzige, was er hervorbrachte, obwohl er so viel mehr hatte sagen wollen. »Wie …«
    Er brach ab und drehte sich um. Der Wald umgab ihn wie ein undurchdringlicher schwarzer Wall. Ein Insekt summte neben seinem Kopf und verstummte.
    Er war allein.
    Ich hab doch nur einmal geblinzelt, dachte er. Die Angst ließ ihn frösteln. Wo ist er denn hin?
    Irgendwo kicherte jemand. Es klang wie Purves' Stimme, aber sie schien weiter von ihm entfernt zu sein, als möglich war.
    »Wo bist du?«, rief er. Der Wald verschluckte seine Worte.
    Vorsichtig tastete er sich an den Bäumen entlang. Die Dunkelheit pulsierte im Rhythmus seines Herzschlags. Schatten lösten sich aus der Nacht und umflossen ihn.
    Etwas kitzelte sein Ohr. Augen, so kalt und hell wie Sterne, sahen ihn an.
    »Lauf, kleiner Junge«, flüsterte Purves. »Lauf, so schnell du kannst.«
    Seine Hände zitterten vor Angst, aber dennoch schlug er nach dem Schatten. Sein Schlag traf nur Luft. Er wurde vom eigenen Schwung nach vorne getragen und fiel auf die Knie. Seine Finger streiften Fell. Es roch nach Essig.
    »Lauf!«, schrie Purves ihn an.
    Craymorus sprang erschrocken auf.
    Um ihn herum wurden aus Schatten Gestalten. Klauen streckten sich ihm entgegen, aufgerissene Mäuler schnappten nach seinen Beinen. Er sprang über sie hinweg, tauchte unter ihnen hindurch, stolperte über Wurzeln und prallte gegen Zweige. Dornen rissen sein Hemd auf, dann seine Haut, aber er lief weiter. Er war schnell und stark, das sagte jeder. Eines Tages würde er die Aufgaben seines Vaters erben und an den Tafeln der Könige sitzen. Das war seine Zukunft, nicht der Tod.
    Er trat ins Leere. Einen winzigen Moment lang sah er den sternenklaren Himmel über sich wie die Augen von tausend höhnischen Ungeheuern, dann stürzte er dem Abgrund entgegen – lange, viel zu lange.
    Als der Aufprall schließlich kam, glaubte Craymorus, sein Körper müsse zerspringen wie Glas. Zweimal überschlug er sich, dann blieb er zwischen den Felsen liegen.
    Hinter ihm rutschten Dreck und Steine nach unten. Er schmeckte Blut, aber er spürte keine Schmerzen, nur eine dumpfe Enttäuschung, als habe ihn das Leben betrogen.
    Craymorus wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er den Schatten bemerkte, der die Sterne verdeckte.
    »Kleiner Junge«, flüsterte Purves' essigsaure Stimme. »Du wirst nie wieder vor irgendetwas davonlaufen. Dies ist mein Geschenk an dich.«
    Craymorus schloss die Augen und erwartete den Tod.
    Doch auch der Tod betrog ihn.

 

    Erster Teil

 
    Kapitel 1
     
    Schroff und grau sind die Gesichter der Menschen von Somerstorm, so schroff und grau wie die Berge, die das Land von allen Seiten umschließen. Bei all meinen Erkundungen traf ich weder auf ein übellaunigeres Volk noch auf eine schlechtere Küche.
    Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
     
     
    Sie hatten ihre Farben auf dem Weg durch Somerstorm verloren, die Händler, Gaukler und Maler, die sich langsam den Weg zur Festung
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