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Sturm

Sturm

Titel: Sturm
Autoren: Claudia Kern
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sie nie etwas anderes getragen. Sie wischte sich die Hände an ihrem Hemd ab und strich vorsichtig über die Seide.
    So weich.
    Zrenje legte ihre raue Hand auf Anas Arm. »Du musst mir etwas versprechen.«
    »Keine Sorge, ich werde die Götter das Kleid nicht sehen lassen.«
    In Somerstorm glaubte man, dass der Blick der Götter Steine nicht durchdringen konnte. Es war der Schutz, den der Fels denen gewährte, die in seiner Kargheit lebten.
    »Ich trage es nur zum Fest heute Abend.«
    Zrenje nickte. »Gut. Du weißt ja, wie sehr sie Schönheit verabscheuen. Ich habe es deinem Vater schon oft gesagt, und ich sage es dir auch noch mal. Diese Männer, die er holt, beschützen dich vor dem Bösen in der Welt, aber ich beschütze dich vor dem Bösen über der Welt. Das ist die Aufgabe einer Zofe, und solange du bei mir bist, werde ich sie erfüllen.«
    Solange du bei mir bist … Das war eine Phrase, die Zrenje seit Anas Verlobung immer häufiger benutzte. Im Sommer schon würde sie nach Westfall gehen und die Kälte, die Kargheit und die zornigen Götter für immer hinter sich lassen. Ana sehnte den Tag herbei.
    »Das weiß ich«, sagte sie. »Du bist …«
    Sie unterbrach sich, als die Tür ihres Turmzimmers aufgerissen wurde und Gerit ins Innere stürmte.
    »Weißt du schon, dass die Gaukler da sind?« Ihr Bruder klang atemlos, war wohl den ganzen Weg nach oben gerannt. »Mutter begrüßt sie gerade. Kommst du mit runter?«
    »Ich weiß nicht. Führen sie denn irgendwas vor?«
    Gerit hob die Schultern. Er war dünn und, obwohl er erst dreizehn Winter erlebt hatte, bereits genauso groß wie sie.
    »Es sind doch Gaukler, oder?«, fragte er zurück. »Was sollen sie sonst machen?«
    Ana dachte an die Wagen mit ihren verschlossenen, geheimnisvollen Kisten. Das Desinteresse, das sie bisher aufrecht gehalten hatte und mit dem sie Gerits Begeisterungsstürme meistens konterte, wich der Befürchtung, dass sie etwas Einzigartiges verpassen würde, wenn sie in ihrem Zimmer zurückblieb. Gerit würde wochenlang von dem schwärmen, was er dort unten gesehen hatte, von den Tieren, der Magie, der Musik.
    »Ich bin gleich zurück.«
    Mit zwei Schritten hatte sie die Tür erreicht. Gerit grinste und lief an den Wachen vorbei auf die Treppe zu. »Wer als Erster unten ist!«
    »Dein Kleid!«, rief Zrenje hinter ihr her. Ana griff nach dem Umhang, der an einem Haken neben der Tür hing, und warf ihn sich im Lauf über.
    »Ich bin gleich wieder da!«, rief sie zurück.
    Zrenje antwortete etwas, was Ana nicht verstand. Vor ihr lief Gerit die ersten Stufen der Wendeltreppe nach unten. Hinter ihr klatschten die Stiefelsohlen der Wachen rhythmisch auf den Steinboden. Der Schatten ihres Leibwächters glitt über die Wände, lautlos und dunkel, so wie er.
    Gerits Lachen hallte durch den Turm. »Du wirst verlieren!«
    Seine Siegesgewissheit spornte Ana an. Zwei, drei der ausgetretenen Stufen nahm sie auf einmal. Das Licht der Kerzen tauchte die Treppe in ein diffuses gelbes Licht, in dem die Stufen kaum zu erkennen waren. Doch sie kannte den Weg so gut, dass sie nicht ein einziges Mal strauchelte.
    Als das graue Rechteck des Tageslichts vor ihr sichtbar wurde, erkannte sie, dass sie das Rennen nicht mehr gewinnen konnte. Gerit nahm den letzten Absatz mit einem einzigen Sprung und lief durch die offene Tür hinaus in den Hof.
    »Sieg!«, rief er, ohne sich umzudrehen.
    Ana folgte ihm nach draußen. »Gar nicht wahr. Wir hätten gleichzeitig loslaufen müssen. Der Sieg zählt nicht.«
    »Würde ich auch sagen, wenn ich so eine lahme Ente wäre.« Gerit wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Wo sind denn die Gaukler?«
    Ana sah sich um. Der Turm lag auf der Westseite der Festung, direkt neben der Küche und dem Gesindehaus. Das schwere eiserne Nebentor, durch das die meisten Waren in die Festung gebracht wurden, stand offen. Wachen lehnten an der Mauer. Zwei von ihnen richteten sich auf, als sie Anas Blick bemerkten.
    »Sind die Gaukler etwa durch das Haupttor gekommen?«, fragte Gerit. »Das sind doch keine Familien von hohem Blut.«
    »Vater hat sie bestimmt durch das Haupttor eingelassen, um sie für die lange Reise, die sie auf sich genommen haben, zu ehren«, sagte Ana.
    »Trotzdem ist es unangemessen.« Ihr Bruder schüttelte den Kopf. In seinen Studien befasste er sich gerade mit Höflichkeitsregeln und Traditionen, Dingen, die er wissen musste, wenn er später einmal die Festung leiten sollte. Er war der Zweitgeborene – der
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