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Sturm

Sturm

Titel: Sturm
Autoren: Claudia Kern
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schwer und dunkel auf dem Kleid. Ana öffnete die beiden letzten Klammern, atmete tief durch und zog das Tuch auseinander.
    Sie hörte, wie Zrenje neben ihr den Atem ausstieß. Schönheit war etwas, woran man in Somerstorm nicht gewöhnt war. Alles, was man hier herstellte, hatte einen Nutzen, einen klar umrissenen Zweck. Doch dieses Kleid, das vor ihnen auf dem Tisch lag, dieses Kleid, aus dem der Geruch nach warmen Sommerabenden emporstieg, weigerte sich, nützlich zu sein. Seine Linien waren schlicht und klar, der Stoff weiß und so weich, dass Anas Fingerspitzen davon abglitten. Keinem Windstoß würde es standhalten, keinem Ritt durch Matsch und Schnee. Stickereien betonten die Falten des Kleids und zogen sich wie ein sanft fließender Fluss vom Saum über den Kragen bis hin zu den Schultern. Es strahlte Weichheit, Sanftheit, Schönheit aus, das genaue Gegenteil von all dem, was Somerstorm ausmachte.
    »Es ist wunderschön«, flüsterte Zrenje. Ihre Hände mit den längst verblassten Sklavenmalen schwebten über dem Kleid, wagten nicht, es zu berühren.
    »Ja, das ist es«, sagte Ana. Vergeblich bemühte sie sich, die Enttäuschung aus ihrer Stimme herauszuhalten.
    Zrenje verschränkte die Arme vor der Brust. »Was gefällt dir daran nicht?«
    »Nichts. Es ist schön, wunderschön. Es …«
    »Der Fürst hätte zehn gute Sklaven mit dem Gold kaufen können, das er dafür ausgegeben hat. Wenn mit dem Kleid etwas nicht stimmt, werde ich es ihm sagen.«
    »Nein.« Ana schüttelte den Kopf, versuchte ihre Enttäuschung in Worte zu fassen.
    »Es ist … Meine Mutter hat mir immer von den Meisterschneidereien von Braekor erzählt. Die Seide, die sie dort verwenden, stammt von Raupen, die ein Leben lang mit Honig gefüttert werden. Deshalb ist der Stoff feiner und weicher als jeder andere.
    Die besten Wahrsager der Königreiche arbeiten für die Schneider. Sie blicken in die Seele von all denen, die zu ihnen kommen. Das, was sie dort finden, arbeiten sie in die Gewänder ein, damit das Äußere das Innere widerspiegelt.«
    Sie betrachtete das weiße, weiche Kleid. »Aber das hier bin nicht ich. Das ist gelogen.«
    Zrenje betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Was ist daran gelogen?«
    »Es ist zu schön.« Ana wandte den Blick ab. »Ich bin nicht so schön.«
    »Nicht so schön wie ein Kleid?« Die Zofe lachte. Es klang wie das Schnaufen eines Ochsen. »Da hast du natürlich Recht.«
    »Was?«
    Sie zeigte auf den makellosen Stoff. »Es hat keine Narbe am Schienbein, weil es nicht von einem Pferd getreten wurde, als es zehn Winter alt war. Deine Haut ist nicht so weich, weil du mit dunklem Roggenbrot, Möwenfleisch und Dornenbeeren großgezogen wurdest. Dein Haar ist kein goldener Fluss, sondern hat die Farbe von gefrorenem Sand. Du bist zu groß und zu dünn, trotzdem ist jeder Junge in der Festung, im Dorf und in den Minen verrückt nach dir. Und Rickard hat den weiten Weg von Westfall auf sich genommen, nur um dir sein Eheversprechen zu geben. Weißt du, warum?«
    Weil ich eines Tages das reichste Fürstentum in allen Königreichen erben werde?, wollte Ana zurückgeben, aber Zrenje ließ sie nicht zu Wort kommen. »Weil du keine leere Hülle bist wie dieses Kleid. Ich kenne die Schneider von Braekor nicht, aber wenn sie behaupten, sie könnten die Seele eines Menschen in ein Stück Stoff bannen, egal, wie schön es ist, dann lügen sie. Das kann niemand. Nicht einmal die Götter, mögen sie die Ohren vor meinem Frevel verschließen. Du musst dich nicht mit einem Kleid messen. Es ist nichts ohne dich. Verstehst du das?«
    Zrenje sprach stets mit großer Vehemenz, so als müsse sie einen Unschuldigen vor dem Henker retten. Ana hatte sich längst daran gewöhnt, trotzdem berührten die Worte etwas in ihr.
    »Hilf mir beim Ankleiden«, entgegnete sie statt einer Antwort. Es war nicht statthaft, sich bei einer Sklavin für einen Rat zu bedanken.
    »Jawohl, Mefrouw.«
    Zrenje lächelte und begann Anas Samtwams aufzuknöpfen. Drei Schichten Kleidung legte Ana an jedem Frühlingsmorgen an, wollene Unterkleidung, einen langen Wollrock, Lederstiefel, ein Leinenhemd mit hohem Kragen, der den Hals vor Wind und Nässe schützte, und ein Samtwams, um die Wärme im Körper zu halten. Nach und nach legte sie die Schichten jetzt ab. Ana spürte die Wärme des Kaminfeuers auf ihrem Bauch und die Kälte der Steine in ihrem Rücken. Das Kleid glitt wie Wasser über ihre Haut. Es schmiegte sich an sie und wirkte so vertraut, als habe
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