Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt
Autoren: Gisa Pauly
Vom Netzwerk:
ihrer breiten Hutkrempe erschienen flüchtig ehemalige Nachbarn, Schulkameraden und Geschäftsleute, zu denen sie früher von der Mutter geschickt worden war, um Besorgungen zu erledigen. Die Gesichter ihrer Angehörigen aber waren nicht dabei. Auch Pfarrer Frerich, Jorit Lauritzen und seine Schwestern konnte sie nicht ausmachen.
    Zufrieden lehnte Aletta sich zurück, zog den Seidenschal vom Hals und schloss kurz die Augen, um zu zeigen, dass sie damit einverstanden war, von der Frau des Kurdirektors nicht unterhalten zu werden, weil die lange Reise sie erschöpft hatte. Sie hörte Ludwig mit Herrn Wülfke über das Attentat von Sarajewo reden und über die Idee, Sylt durch einen Eisenbahndamm mit dem Festland zu verbinden.
    »Es geht jetzt los mit den Vorbereitungen für den Bau des Damms«, erzählte Wülfke stolz. »Die amtlichen Planungen sind abgeschlossen. Der preußische Landtag hat die Mittel dazu genehmigt. Zehn Millionen für elf Kilometer!«
    »Möglicherweise ein wenig voreilig«, sagte Ludwig, »gerade jetzt mit den Bauvorbereitungen zu beginnen. Wenn es Krieg gibt ...«
    Aber Wülfke ließ Ludwig nicht aussprechen. »Schon seit Jahren rüstet Europa auf, ohne dass etwas geschieht. Bisher wurde immer ein diplomatischer Kompromiss gefunden. Warum nicht auch diesmal?«
    »Irgendwann ist die Diplomatie am Ende«, antwortete Ludwig. »Die Krupp AG in Essen hat längst schwere Artillerie produziert, auch Schiffsgeschütze für moderne Flotten. Ganz Europa ist auf einen Krieg eingerichtet.«
    »Die Tat dieses verbohrten serbischen Nationalisten soll der Grund für einen Krieg sein?« Kurdirektor Wülfke sah seinen Gesprächspartner spöttisch lächelnd an.
    Aber Ludwig blieb ernst. »Nicht der Grund, aber der Auslöser.«
    »Umso wichtiger wird dieser Damm sein. Der Seeweg nach Sylt ist umständlich, vor allem die unzuverlässige Verbindung zwischen Hoyer-Schleuse und Munkmarsch. Ein Damm ist im Falle eines Krieges von strategischer Bedeutung. Bei einer Mobilmachung müssen Soldaten samt Kriegsmaterial so schnell wie möglich nach Sylt gebracht werden.«
    Ludwig nickte. »Zur Verteidigung der Nordwestflanke.«
    »Wenn sich das bis zum Winter hinzieht, wird es schwierig«, bestätigte Wülfke. »Die Fährverbindungen sind im Winter noch unzuverlässiger. Und die Arbeiten am Dammbau werden nicht so schnell fertiggestellt werden können.«
    »Es wird nicht bis zum Winter dauern«, murmelte Ludwig.
    Aber obwohl er leise gesprochen hatte, wurde er von Wülfke mit einem warnenden Blick in Richtung der beiden Damen getadelt, und er beendete das Gespräch sofort. Ludwig sah ein, dass der Kurdirektor recht hatte. Der Krieg war kein Thema für Frauen und erst recht kein Thema für diese Stunde der Heimkehr nach Sylt.
    Der Zug fauchte durch die Munkmarscher Heide. Einige Bauersleute, die auf den Feldern arbeiteten, unterbrachen ihre Tätigkeit und winkten der Inselbahn und ihren Insassen zu. In einem der Männer, die ihren Holzrechen durch die Luft schwenkten, erkannte Aletta einen früheren Klassenkameraden, und sie winkte lachend zurück. Erk hatte sicherlich längst den Hof seines Vaters übernommen, die große Scheune, die dazu gehörte, hatte inden letzten zehn Jahren vermutlich noch manchem Liebespaar Zuflucht geboten. Dort hatte sie Jorit gestanden, dass sie ihre Flucht plante, dort hatte er versucht, sie davon abzuhalten. Bis zu diesem Tag war er ihr Verbündeter gewesen, hatte als Einziger gewusst, dass sie nicht als Dienstmädchen zu Vera Etzold ging, sondern von ihr Gesangsunterricht erhielt. Er hatte sein Versprechen gehalten und niemandem etwas verraten, aber als er hörte, dass der Gesang ihn von Aletta trennen sollte, war Schluss gewesen mit seiner Loyalität. Nein, so weit sollte sie es nicht treiben, und wenn, dann wollte er dabei sein.
    »Ich komme mit«, hatte er mit entschlossener Stimme gesagt.
    Aber da hatte Aletta längst eingesehen, dass Jorit nicht mehr zu ihrem Leben gehören konnte, nicht zu dem Leben, das Vera ihr ausgemalt hatte. In diesen letzten Tagen auf Sylt hatte sie das Maß ihrer Lügen vollgemacht und auch Jorit betrogen, damit er nicht im letzten Augenblick ihre Pläne zerstörte, aus Enttäuschung darüber, dass er selbst nicht einbezogen worden war.
    Tausendmal hatte Aletta sich später vorgestellt, was in ihm vorgegangen sein mochte, als er feststellte, dass sie ohne ihn die Insel verlassen hatte. Wochen später hatte sie ihm einen Brief geschrieben, aber Vera hatte verhindert,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher