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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt
Autoren: Gisa Pauly
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dass sie ihn abschickte. »Lass die Vergangenheit hinter dir! Wir haben ein großes Ziel! Nur daran darfst du denken. Also schau nicht zurück.«
    Aber Aletta hatte zurückgeschaut. Immer wieder, Abend für Abend vor dem Einschlafen, Morgen für Morgen nach dem Aufwachen und erst recht nach Veras plötzlichem Tod. So lange, bis sie Ludwig begegnet war. Er hatte vieles vergessen lassen, was bis dahin auf ihr gelastet hatte. Sie betrachtete ihn lächelnd, ohne dass er es bemerkte. Ludwig Burger! Sie hatte sich sofort in ihn verliebt ...
    Er war ein Mann von 35 Jahren, nur sechs Jahre jünger als der Kurdirektor, aber um viele Jahre jugendlicher aussehend. Im Gegensatz zu Wülfke hatte er noch volles Haar, war schlank undmuskulös, während der Kurdirektor es angemessen fand, seine herausragende Stellung durch Stattlichkeit zu betonen. Über seinem gewölbten Bauch spannte sich die Weste, die Jacke seines dunklen Anzugs hatte er nicht geschlossen, entweder weil er um die Knöpfe fürchtete oder weil er den Schmuck der schweren Uhrkette zeigen wollte.
    Ludwig trug einen dunklen Wollanzug, die Jacke geschlossen, von der Weste war nur der obere Knopf zu sehen. Sein weißes Hemd mit dem hohen Kragen war trotz der langen Reise makellos, die dunkle Krawatte zeigte keine Falte. Der kleine Schnurrbart passte zu seiner eleganten Erscheinung. In Wien trug er ihn an den Seiten länger und zwirbelte ihn hoch, wie es zurzeit Mode war, aber für die Reise nach Sylt hatte er ihn gestutzt. Ein weiteres Zeichen seiner Weitsicht und Anpassungsfähigkeit. Ludwig Burger hatte nichts dagegen, aufzufallen, aber er vermied es unter allen Umständen, wenn durch das Exponierte seiner Stellung ein anderer herabgewürdigt wurde. Sein kantiges Gesicht wurde von braunen Augen dominiert, die von dichten Brauen beschattet und von Wimpern bekränzt wurden, um die Aletta ihn heimlich beneidete. Seine Nase war kurz und breit, sein Mund sehr ausdrucksvoll mit der schmalen Oberlippe, die beinahe unter seinem Schnäuzer verschwand, und einer vollen Unterlippe. Das Grübchen im Kinn nahm seinem markanten Gesicht das Strenge, gab ihm etwas Spitzbübisches, was durchaus zu seinem Wesen passte.
    Kurdirektor Wülfke versuchte, mit dem zu punkten, was er zu bieten hatte, seiner Stellung, seinem Einfluss, seinem Vermögen, ohne zu ahnen, dass Ludwig Burger all dies ebenfalls besaß. Aber er ließ es sich nicht anmerken und sah den Kurdirektor jedes Mal anerkennend an, wenn dieser durchblicken ließ, dass er ein Mann war, der etwas erreicht hatte, ein Mann, auf den seine Frau stolz sein konnte, kein Mann, der hinter einer Frau zurücktrat, weil sie berühmt war.
    Dass Frau Wülfke stolz auf ihren Mann war, ließ sich nichtübersehen. Sie nickte zu allem, was er sagte, und zog pikiert die Mundwinkel herab, wenn er Ludwig über mehrere Sätze zu Wort kommen ließ. Kurz vor Westerland aber fing sie den Bick ihres Mannes auf, der ihr bedeutete, dass sie sich um Aletta zu kümmern habe, die aus dem Fenster blickte und auf den Kurdirektor womöglich einen gelangweilten Eindruck machte.
    Frau Wülfke riss sich zusammen und begann aufzuzählen, was sich vor den Abteilfenstern zeigte, die Namen der Bauern, an deren Feldern sie vorbeifuhren, die Namen der Hausbesitzer, die an der Bahnstrecke wohnten, sie wies auf Häuser hin, die erst kürzlich entstanden waren, auf Hotels, von denen viele in den letzten zehn Jahren eröffnet hatten, und erzählte Aletta etwas von dem Fremdenverkehr, der Jahr für Jahr zunahm. Als wollte sie auch etwas zu den politischen Ereignissen sagen, berichtete sie davon, dass auf allen öffentlichen Gebäuden der Insel die Fahnen auf Halbmast gesetzt worden seien. »Noch an dem Tag, an dem der Mord in Sarajewo geschah. Als die Botschaft in Westerland eintraf, spielte gerade das Kurorchester. Aber selbstverständlich wurde das fröhliche Unterhaltungsprogramm sofort unterbrochen. Der Dirigent ließ den Trauermarsch und die österreichische Hymne spielen.«
    Als der Ostbahnhof in Sicht kam, erlaubte sie sich die Frage, die ihr vermutlich schon lange auf den Nägeln brannte, die sie aber nicht zu stellen gewagt hatte, weil ihr Mann nicht damit einverstanden gewesen wäre. Nun aber war er derart in das Gespräch mit Ludwig Burger vertieft, in dem es um die Unabhängigkeit Albaniens ging, dass sie es wagte: »Ist es im ›Miramar‹ erlaubt, dass ein unverheiratetes Paar ein gemeinsames Zimmer bezieht?«
    Aletta wusste nicht, ob sie sich über diese Frage
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