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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt
Autoren: Gisa Pauly
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amüsieren oder ärgern sollte. Schließlich stellte sie fest, dass es weder das eine noch das andere Gefühl in ihr gab. Während sie nur hochmütig die Schultern zuckte und Frau Wülfke mit dieser nonverbalen Antwort abspeiste, dachte sie darüber nach, ob diese Frage etwaauch ihre Eltern bewegte. Erneut wurde ihr bewusst, was sich in den vergangenen zehn Jahren verändert hatte. Sie hatte vergessen, dass ihr Leben nicht nur glanzvoller, ereignisreicher, bemerkenswerter geworden war, sondern auch schamloser, anrüchiger. Jedenfalls für eine Sylter Familie, der es immer darauf angekommen war, ein anständiges, gottesfürchtiges Leben zu führen. Als sie sich entschlossen hatte, endlich die Einladung des Kurdirektors anzunehmen, ein Konzert auf ihrer Heimatinsel zu geben, hatte sie nicht daran gedacht, was ihre Eltern dazu sagen würden, dass sie in Wien mit einem Mann zusammenlebte, mit dem sie nicht verheiratet war. Natürlich würden sie nicht damit einverstanden sein, würden sich womöglich ihrer Tochter schämen, sie verurteilen und sich in sämtlichen Befürchtungen bestätigt sehen.
    Aletta spürte, wie die Angst sich schmerzhaft durch ihren Leib zog. Sie kam nach Sylt, um sich die Liebe ihrer Eltern und ihrer Schwester zurückzuholen. Sie war so sicher gewesen, dass die drei nun einsehen mussten, dass sie ihr Unrecht getan hatten. Sie mussten einfach! Oder war es möglich, dass die Bedeutung ihrer Rückkehr an der Frage verkam, ob eine anständige Frau ein eheähnliches Verhältnis ohne den Segen der Kirche, des Staates und ihrer Familie einging?
    Die Angst verstärkte sich, nagte an der Sicherheit des Triumphes und verschlang ihn schließlich. Ihrer Angst standen mit einem Mal keine Bedeutung, kein Sieg, kein Recht mehr gegenüber.
    Aletta hatte darauf bestanden, das Zimmer zu beziehen, das Vera Etzold früher Sommer für Sommer bewohnt hatte. Es lag in der ersten Etage, direkt der breiten Treppe gegenüber, die vom Erdgeschoss heraufführte. Hoteldirektor Busse, einer der Söhne des Hotelgründers Otto Busse, hatte Aletta und Ludwig vor dem Hotel empfangen, hinter ihm hatte sich ein Teil des Personals aufgestellt, kerzengerade, die Hände auf dem Rücken. Die Schürzen flatterten auf, denn der Wind hatte aufgefrischt, dieweißen Hauben der Mädchen gerieten in Gefahr, als eine Windbö vom Meer herüberwehte. Aber keines von ihnen löste sich aus der strammen Haltung, um das äußere Erscheinungsbild zu sichern. Viel mochte sich auf Sylt verändert haben, das »Miramar« war das Gleiche geblieben. Vor zehn Jahren hatte Aletta vor Staunen kaum einen Schritt in das Hotel setzen mögen, aber auch jetzt, nach einem Abstand von unzähligen Luxushotels, war es immer noch ein besonders schönes und komfortables Haus.
    Sie stand am Fenster, kehrte dem Meer den Rücken zu und betrachtete das Zimmer, in dem sich ihr Schicksal entschieden hatte. Tatsächlich war es beinahe unverändert geblieben. Die dunklen Möbel waren noch dieselben, die brokatenen Vorhänge und rotgemusterten Teppiche ebenfalls. Nur ein paar Accessoires waren dazugekommen. Die gepolsterten Sitzflächen der Stühle waren erneuert worden, die drei Silberleuchter auf einem der Beistelltische hatte es früher nicht gegeben, und der Samowar, den Vera gern benutzte, war verschwunden. Aletta schloss die Augen, meinte das leise Brodeln des kochenden Wassers zu hören, das Zischen, wenn Vera den Tee in die Tassen laufen ließ, ihr leises Wehklagen, weil sie sich jedes Mal die Finger verbrannte und oft schon zu klagen begann, bevor es geschah, und am Ende sogar dann, wenn der Tee in der Tasse war, ohne dass das kochende Wasser ihr auf die Finger getropft war. Ihr Jammern gehörte zur Benutzung des Samowars dazu, so wie der Tee, den sie aus Keitum kommen ließ, weil ihr kein anderer schmeckte.
    Als Aletta zum ersten Mal in diesem Zimmer gestanden hatte, war sie überwältigt gewesen von der Eleganz und der Selbstverständlichkeit, mit der Vera mit diesem Luxus umging. Sie hatte Aletta Tee angeboten, als wäre sie ein gleichrangiger Gast, aber noch bevor der erste Schluck getrunken war, hatte sie Aletta gebeten, das Ave-Maria noch einmal zu singen. Und dann noch mal und ein weiteres Mal ... danach hatte sie sich eine Meinung gebildet.
    Aletta drehte sich dem Meer zu, als sie hörte, dass Ludwig aus dem Bad kam. Sie erwartete, dass er an ihre Seite trat, aber er ging zur Tür und sagte: »Der Hoteldirektor stellt mir sein Telefon zur Verfügung. Ich muss ein
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