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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt
Autoren: Gisa Pauly
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mussten, dass sie damals richtig gehandelt, dass sie gar nicht anders gekonnt hatte! Wenn sie es mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hatten. Alle! Jetzt fühlte sie sich noch klein und schwach, dann erst würde sie ihrer Familie unverwundbar entgegentreten können. Die Eltern würde sie zwingen, stolz auf sie zu sein, und Insa würde sie zwingen, zu lächeln und etwas Anerkennendes zu sagen.
    Wieder sprach Aletta sich unhörbar vor, was Vera ihr schon vor zehn Jahren eingeprägt hatte: »Du musst sie zwingen! Und glaub mir, sie werden sich zwingen lassen.«
    Ach, Vera! Sie hätte sich nicht ausmalen können, was danach geschah ...Im Shanty-Chor waren keine Mädchen und Frauen zugelassen. Wer seinen Gesang einem Publikum zu Gehör bringen wollte, für den gab es nur die Möglichkeit, dem Kirchenchor beizutreten, den Pfarrer Frerich leitete, der zwar von Musik wenig verstand, dafür umso mehr von den Problemen, Nöten, Vorlieben und Ansichten der ihm anvertrauten Schäfchen. Was er billigte, unterstützte er; was ihm missfiel, versuchte er zu unterbinden. Damit, so meinte er, wurde er seiner seelsorgerischen Aufgabe mehr als gerecht. Er erkannte zwar Alettas Talent, war aber derselben Ansicht wie ihre Eltern: »Der Deern dürfen keine Flausen in den Kopf gesetzt werden.«
    Ein Sylter Mädchen durfte singen, wenn es fröhlich war, wenn es Gott gefällig sein wollte oder die Arbeit mit dem Gesang besonders flott von der Hand ging. Aber singen um des Singens willen? Singen, um ein Talent zu beweisen? Singen womöglich, um damit Geld zu verdienen und auf Ruhm und Ehre zu hoffen? Das fand Pfarrer Frerich genauso indiskutabel wie Alettas Eltern.
    Aber immerhin war er bereit, sie gelegentlich ein Solo singen zu lassen. »Der liebe Gott wird sich was dabei gedacht haben, als er dir diese schöne Stimme gab.«
    Und als sie am Petritag in der Kirche das Ave-Maria singen durfte, war Vera Etzold unter den Zuhörern. Bis zu diesem Tag hatte niemand gewusst, dass sie die erste Sopranistin am Stadttheater von Göttingen gewesen war. So lange, bis sie sich mit einem wohlhabenden Fabrikanten verlobte, der selbstverständlich verlangte, dass sie ihre Karriere zugunsten der Familie aufgab. Die Ehe währte allerdings nicht lange, denn Veras Mann wurde schon zwei Jahre nach der Hochzeit das Opfer eines Raubüberfalls. Doch da in ihren Kreisen eine Witwe genauso wenig wie eine verheiratete Frau einem Broterwerb nachging, war es Vera nicht gelungen, auf die Bühne zurückzukehren. Dass sie unter ihrer unerfüllbaren Sehnsucht litt, wusste niemand. Erst recht keiner von denen, die sie wegen ihres Reichtums und ihres bequemen Lebens beneideten.
    Direkt nach dem Ave-Maria war sie zu Aletta gekommen und hatte sie in ihr Hotel eingeladen. »Du musst aus deiner Stimme etwas machen. Wenn du willst, arbeite ich mit dir.«
    Und ob Aletta wollte! Aber instinktiv begriff sie, dass sie mit keiner Unterstützung rechnen konnte, dass man ihr diese Flausen so schnell wie möglich austreiben würde. Und obwohl sie erst zehn Jahre alt war, hatte sie bereits die Weitsicht, zu erkennen, dass ihr Wunsch, wenn er erst einmal abgelehnt worden war, nicht mehr heimlich zu verfolgen sein würde. Also erzählte sie den Eltern nichts von dem wahren Grund dieser Einladung. »Ich weiß nicht, warum ich zu ihr kommen soll, aber einer so vornehmen Dame kann ich den Wunsch unmöglich abschlagen.«
    Dieser Ansicht waren ihre Eltern ebenfalls. Und als die Mutter vermutete, dass Vera Etzold ein Dienstmädchen brauchte, das ihr gelegentlich zur Hand ging, reichte sie ihrer Tochter damit ahnungslos eine Lüge, nach der Aletta gierig griff. Lange sollte das Lügen von da an zu ihrem Leben gehören. Und all das andere, für das sie sich heute schämte! Für den Gesang war sie zu einem schlechten Menschen geworden, das hatte Pfarrer Frerich ihr später unmissverständlich klargemacht. Aber er hätte sich seine Worte sparen können. Aletta wusste selbst, was sie getan hatte. Jahrelang! Immer wieder! Und gebeichtet hatte sie es nur ein einziges Mal. Das war, als Vera gesagt hatte: »Nun wird es Zeit, sie zu zwingen. Du bist so weit!«
    In die Menschenmasse kam Bewegung, als der Dampfer sich der Mole näherte. Etwa hundert Meter war die Mole lang, und Aletta mochte sich nicht vorstellen, wie viele Menschen es waren, die dort warteten. Dichtgedrängt standen sie, um dem Raddampfer entgegenzusehen. Aletta war es, als bewegte sie sich auf eine Gefahr zu, die sich
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