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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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und erstarrte mit vorgestreckter Hand zu vollkommener Bewegungslosigkeit. Scheißsauferei! Er hatte zeit seines Lebens einen großen Bogen um jedes übertriebene Besäufnis gemacht, vor allem um das, was als Kampftrinken darauf hinauslief, sich auf einen Schlag Zehntausende von Gehirnzellen aus dem Kopf zu blasen. Denn mit siebzehn hatte er einmal einen Filmriss gehabt, und alles, woran er sich noch hatte erinnern können, war ein matschiger Graben gewesen, in dem er neben seiner gedrosselten 125er gelegen hatte, deren Hinterrad sich wild drehte, während aus der gerissenen Tankleitung Benzin über den heißen Motor lief. Seine Aprilia hatte kein Feuer gefangen und war auch nicht hochgegangen, aber es hatte wohl nicht viel daran gefehlt.
    Jedenfalls war ihm das ein Denkzettel gewesen, den er sein Leben lang nicht vergessen hatte.
    Bis Kinah ihn verlassen hatte. Und danach auch noch ihre gemeinsame Tochter Akuyi verschwunden war.
    Ganz langsam und vorsichtig richtete er sich auf und legte den Kopf in den Nacken, darum bemüht, nur nicht in Richtung der Masken zu blicken. Aspirin, das brauchte er jetzt, zwei, drei oder besser gleich vier Tabletten. Wahrscheinlich halfen sie nicht die Bohne, aber dann hatte er wenigstens das Gefühl, etwas gegen seinen dicken Kopf getan zu haben. Denn egal, wie mies es ihm ging und wie gerne er sich in seinem Selbstmitleid badete: Er hatte etwas zu tun. Das Gleiche wie jeden Tag seit sechs Wochen. Sich hinter seinen PC klemmen, als gebe es in den Weiten des Internets eine Spur, die ihn zu Akuyi führen konnte, zu seinem Lieblingsbullen fahren, der ihn über den Rand seiner schmalen Brille hinweg mitfühlend angucken würde, bevor er in seine Wurststulle biss und schmatzend sagte: »Leider nein, noch keine Spur. Aber ich kann nur immer wieder betonen, dass Sie die Hoffnung nicht aufgeben dürfen. Irgendwann werden wir Ihre Tochter finden. Da bin ich mir sicher.«
    Dirk war sich da gar nicht sicher. Mister Superbulle hatte durchblicken lassen, dass es in Deutschland je nach Schätzung drei- bis siebentausend Jugendliche gab, die ausgerissen waren und auf der Straße lebten – und nur ganz wenige Fälle pro Jahr, in denen Jugendliche einem Gewaltverbrechen zum Opfer fielen.
    Damit hatte er Dirk wohl Hoffnung machen wollen, aber natürlich nur das Gegenteil erreicht. Die meisten der wenigen bedauernswerten Opfer, die einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen waren, waren Mädchen, und die wenigsten von ihnen waren hässlich. Und Akuyi war bildhübsch, was ihr auch schon früher das eine oder andere Mal neben den üblichen dämlichen Anmachersprüchen großen Ärger eingebracht hatte. Außerdem kannte Dirk seine Tochter. Sie hatte es genauso schwer wie er selbst verkraftet, dass ihre Mutter ohne ein Wort der Erklärung ihre kleine Familie verlassen hatte, und nie die Tendenz gezeigt, einen ähnlich gearteten Unsinn zu machen. Ganz im Gegenteil; sie hatte sich wie eine Ertrinkende an einen Ast an den Rest Normalität geklammert, den Dirk ihr zu bieten versucht hatte.
    Oder, um es anders ausdrücken: Sie beide hatten sich wie zwei Ertrinkende aneinandergeklammert.
    Nicht, dass das gesund für eine Sechzehnjährige gewesen wäre; ganz im Gegenteil. Akuyi war zwar weiterhin recht gut in der Schule gewesen, aber sie hatte sich von allem abgewandt, was Jugendliche in ihrem Alter normalerweise beschäftigte. Mode, Disco, Jungs, Abhängen – all das interessierte sie nicht mehr, wie sie Dirk gestanden hatte. Dafür hatte sie sich intensiv mit ihren schwarzafrikanischen Wurzeln auseinandergesetzt, was Dirk vom ersten Moment an mit mehr Unruhe erfüllt hatte, als wenn sie sich auf irgendwelchen Kifferpartys herumgetrieben hätte. Afrika war ihm fremd geblieben, so viel ihm Kinah auch zu vermitteln versucht hatte, ja, es war ihm sogar zunehmend fremder geworden, je mehr Einzelheiten er über die alten Kulturen erfahren hatte, die Kinah – und damit teilweise auch Akuyi – geprägt hatten.
    Aber all das spielte keine Rolle, jetzt, da Akuyi spurlos verschwunden war. Nun war nur noch wichtig, dass er sie nicht im Stich ließ und jede noch so ungewisse Spur verfolgte.
    Dirk stieß sich ab, kam torkelnd hoch und machte zwei, drei unsichere Schritte. Sein rechter Fuß streifte eine Flasche, die ebenfalls klirrend umfiel, ohne dass diesmal etwas auslief, und sein linker Fuß schlurfte durch die kalte Lache aus der ersten Flasche, die er gestern nicht mehr geschafft hatte. Heute würde er keinen Schluck
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