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Straub, Peter

Straub, Peter

Titel: Straub, Peter
Autoren: Die fremde Frau
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Charriere. M. Charriere sah liebenswürdig und ein wenig verstaubt aus, und er war gegen ein Regal gelehnt. Ich sah ihn an, dann auf die Armbanduhr. Fünfzehn Uhr dreißig. Sechs Minuten später kam die Frau durch die Glastür, die sie mit einiger Anstre n gung aufstieß, trat auf die Straße und ging die Rue Vaugirard hinab – wo sie einem schnurrbärtigen Mann in blauer Uniform zuwinkte, der auf den Stufen des Lycee de St. Louis stand –, weiter ihr Gesicht immer noch von dem Lächeln erhellt, we l ches sie dem Mann mit dem Schnurrbart geschenkt hatte, schließlich betrat sie eine Buchhandlung nahe am Place de Edmund Rostand. Ich folgte nur wenige Meter hinter ihr. Ein gebeugter kleiner Mann im blauen Anzug bediente sie, er beugte sich zu ihr hinüber und presste die Fingerspitzen an den Mund. Sie verlangte ein Exemplar von Papillon und eines von L ’ Imrnoraliste von Andre Gide. Nein, Taschenbücher wollte sie nicht, sie wollte gebundene Ausgaben. Während sie die Bücher beim Kassierer bezahlte, wählte ich Le Deputation von Henry James und L ’ Histoire d ’ Ó von › Pauline Reage ‹ und P i erre Ecrite von Yves Bonnefoy.
    Mit ähnlichen Päckchen, in grünem Packpapier eingewi c kelt, verließen wir die Buchhandlung fast gemeinsam. Als ich ihr die Tür aufhielt, lächelte sie mich wieder an, ein bede u tungsloses Verziehen stimmter Gesichtsmuskeln, wenngleich eine wunderschöne Geste. Mir fiel auf, dass sie, irgendwann, seit sie das Hotel mit der Glastür verlassen hatte, einen gelben Schal umgelegt hatte. Am Jardin de Luxembourg gingen wir beide in die Metro hinab, bezahlten unsere Francs, erhielten die wertlosen Fahrkarten und fuhren mit der Bahn zur Rue de Rivoli, auf der anderen Seite des Flusses. Sie saß vier Sitzre i hen vor mir, wie sie es mir in ihrem Brief geschrieben hatte.

5
     
    »… Haar, Hände und Augen. In meiner Kindheit ging das S y stem über Gefühle. Vielleicht wurden Gefühle in den beinahe ritualisierten Verhaltensmustern von unverschlossenen Türen und Händeschütteln und Gute-Nacht-Küssen ausgedrückt, aber wenn dem so ist, dann war die Freundlichkeit aus diesen G e sten genommen worden, und Zuneigung wurde zu etwas Fe r nem, Verdrängtem. Himmel und Hölle war mein Liebling s spiel: Am Rand der Ritzen von Platten konnte ich zitternd, aber stetig vorwärts kommen . Meine Füße traten auf und stap f ten heftig durch die Gitter der Kreidestriche. Um drei kam ich nach Hause, meine Mutter lächelte flüchtig, und vielleicht schon vom Alkohol verzerrt, und ich bekam einen Teller Su p pe. Der Mann – der neue Mann, dessen Namen ich mit dem seines Vorgängers verwechselte – rasierte sich in unserem B a dezimmer, schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer, wo er den Arm steif herabhängen ließ. Mit Dir lerne ich eine Sprache flüssig, in der meine Mutter nur stammeln konnte.
    Du bist ein Klotz – diese Festigkeit liebe ich. Du blinkst und flackerst und verschwindest nicht. In Deinem Herzen existiert eine amerikanische Undurchsichtigkeit, eine harte Schale, wie die einer Walnuss . «
     
    Nachdem wir gegessen haben, faltet Mr. Franciscus die Se r viette rechteckig zusammen und streicht sie neben seinem Te l ler glatt. Der erste Kellner taucht an seiner Seite auf und pr ä sentiert ihm die Rechnung. »Danke, Sah «, flüstert er. Mr. Franciscus nimmt das Blatt mit einer Hand entgegen, mit der anderen sucht er in der Brusttasche nach der Brille. Nachdem er die Brille auf die Nase gesetzt hat, rechnet er die Zahlen des Kellners peinlich genau nach. Sein Gebaren ist zackig, präzise: das eine s a lten Mannes. Den Bleistift hält er unnatürlich nur zwischen Daumen und Zeigefinger, ganz senkrecht; er hat konzentriert die Lippen geschürzt, während er mit dem Ble i stift alle Beilagen des Essens abhakt. »Alles in Ordnung, alles in Ordnung «, sagt er.
    Die Frau auf der anderen Seite des Restaurants steht unve r mittelt auf. Ich sehe, wie der BBC-Mann sich am letzten Rest seines Kaffees verschluckt. Seine Augen haben einen hünd i schen, gekränkten Ausdruck. Indem sie sich eilt – das freilich tut sie mit so eloquenten Bewegungen, dass sie sich fast lässig zu bewegen scheint – erreicht sie die Restaurant-Tür, bevor er dem Kellner, der immer noch neben Mr. Franciscus steht, ein Zeichen geben konnte. Ich sehe über die Schulter meiner Frau und tue so, als würde ich auf die wütenden Signale achten, die von ihr ausgehen, dabei jedoch beobachte ich die Frau, die sich unter der offenen
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