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Anschlag auf den Silberpfeil

Anschlag auf den Silberpfeil

Titel: Anschlag auf den Silberpfeil
Autoren: Stefan Wolf
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1. Die verlorene Fahrkarte
     
    Ihm war schwer ums Herz. Wie immer,
wenn er ein Wochenende zu Hause verbracht hatte — bei seiner Mutter.
    Jetzt lag der Abschied hinter ihnen. Es
war später Vormittag, und Tim — früher Tarzan genannt — trottete zum Bahnhof.
    Er hatte nicht viel Gepäck, nur seine
Reisetasche aus abgewetztem Leinen. Außer den Wochenend-Klamotten war auch ein
spannendes Buch drin. Darin wollte er lesen, um die Zeit totzuschlagen: die
mehrstündige Bahnfahrt zu der großen Stadt, wo seine Freunde im Internat auf
ihn warteten.
    Und Mutti, dachte er, sitzt jetzt in
ihrem Büro.
    Nur zu gern hätte sie ihn an den Zug
gebracht. Aber die Arbeit ließ das nicht zu.
    Er sockte über den Vorplatz. Mit seinen
Gedanken war er noch zu Hause. Er mußte ihnen Beine machen, buchstäblich, damit
sie ihn einholten, die Gedanken.
    Heißer Tag heute, dachte er und sah in
den wolkenlosen Maihimmel hinauf. Die Sonne brannte.
    Und es würde noch heißer werden — aber
in einem anderen Sinn.
    Er näherte sich dem Eingang der
Bahnhofshalle. Bis zur Abfahrt des Zuges blieb ihm eine halbe Stunde. Zum
Trödeln. Seine Fahrkarte, eine Rückfahrkarte, hatte er bereits.
    Hinter ihm — etwa im gleichen
Schrittempo — kamen zwei Typen. Unfreiwillig hörte er, was sie redeten.
    „...ist gut, daß ich dich treffe“,
knarzte der eine mit rauhen Stimmbändern. „Du schuldest mir einen Hunderter.
Ich brauche ihn.“
    „Mann, Nitschl!“ pfiff der andere
zurück. „Abgemacht war, daß du die Kohle in drei Wochen zurückkriegst. Wieso
jetzt?“
    „Weil ich verreise, Mann!“
    „Na und?“
    „Ich will nach...“
    Er nannte die Stadt, die auch Tims Ziel
war.
    „Na und?“ fragte der andere zum zweiten
Mal.
    „Weißt du, was die Fahrt im Süd-Express
Silberpfeil kostet? Du weißt es nicht, Mann, weil du nur im Bahnhof rumlungerst
und nie ‘ne Reise machst. 298 Mark muß ich blechen für hin und zurück. Genau
300 habe ich. Geht man so auf Fernfahrt, heh?“
    „Es reicht doch.“
    „Ich bin stundenlang unterwegs. Soll
ich verdursten? Verhungern? Gib den Hunderter her, und ich pflanze mich gleich
in den Speisewagen.“
    Der andere sagte, daß er das Geld nicht
habe.
    Blöde Affen! dachte Tim, ohne sich
umzusehen.
    In diesem Moment überholten sie ihn — der
eine rechts, der andere links.
    Der Linke sah aus wie ein Typ, der oft
im Bahnhof rumlungert: schlapp, schmuddelig, biersüchtig.
    Der Rechte war eine Art Stadtindianer
mit Irokesenschnitt und Gesichtsbemalung. Mit einem Netz blauer Adern hatte er
Stirn und Wangen verschönt. Er rempelte Tim an: unabsichtlich, aber so hart wie
beim Eishockey.
    „Heh!“ sagte Tim. „Pass doch auf, wo du
hintaumelst!“

    Das blauädrige Gesicht wandte sich ihm
zu. „Schnauze, Fuzzi! Wenn ich komme, gehst du beiseite!“
    Du meine Güte! dachte Tim. Der hält
sich wohl für den Kaiser von Monaco (Zwergstaat in Südeuropa).
    Er wollte was Scharfes erwidern. Es
brannte ihm schon auf der Zunge. Aber die beiden beschleunigten, hatten jetzt
flotten Volksmarschschritt drauf und entgingen damit seiner Schlagfertigkeit,
sowohl der mündlichen als auch der seiner Fäuste.
    In der Bahnhofshalle herrschte Montags-Betriebsamkeit.
    Tim ging umher, sah sich Schaukästen an
und die Plakate von Reiseveranstaltern. In seinen Ohren klingelte es. Klarer
Fall: Seine Mutter dachte an ihn. Aber es klingelte sehr laut. Wahrscheinlich
beschäftigten sich auch Gabys Gedanken mit ihm.
    Er kaufte sich einen Becher Malzmilch
am Kiosk. Zuzzelnd äugte er in alle Richtungen.
    Von dem Bahnhofs-Rumlungerer und
Nitschl, dem Stadtindianer, war nichts zu sehen. Vielleicht knackten sie im
Untergeschoß den Zigaretten-Automaten, damit Nitschl zu seinem Verpflegungsgeld
kam.
    Tims Blick suchte die Halle ab. Nein,
kein Freund von früher war da. Kein Bekannter. Er war schon zu lange weg, zu
selten hier. Und jene, die er kannte, hockten im Unterricht. Nur in seiner
Internatsschule fiel der heute aus — wegen eines Wasserrohrbruchs im
Haupthaus-Parterre.
    Er knüllte den leeren Becher zusammen
und zielte zum Papierkorb. Aber der Becher prallte auf den Rand und fiel zu
Boden. Kein Punkt für Weitwerfen.
    Da Tim mit der Umwelt pfleglich umging,
hob er den Becher auf. Im selben Moment wurde er am Arm berührt.
    „Ach, Junge... Hast du sie gefunden?
Ja?“
    Verblüfft sah er die Frau an.
    Sie hatte ein junges Gesicht, sah
jedenfalls noch nicht aus wie Ende fünfzig, hatte aber eisgraues Haar. Es
wallte hervor unter einem
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