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Straub, Peter

Straub, Peter

Titel: Straub, Peter
Autoren: Die fremde Frau
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wir in gewisser Weise eigentlich alle J u den sind. Er sagte, sie hätten uns assimiliert, anstatt andershe r um. « Sie lächelt mich an, als wäre das der Hinweis für ihr wolkenverhangenes Schicksal.
    »Möchtest du zu Abe zurückkehren? «
    Sie schüttelt den Kopf: Nein, nein.
    »Nun, vielleicht sind wir alle Juden «, sage ich. »Ich hatte einmal einen Freund, der etwas Ähnliches gesagt hat. Aber ich glaube nicht, dass das etwas ändert. « Israel verblasst auf ihrem Gesicht: Sie wird nie wieder dorthin zurückkehren.

5
     
    Abe, das jungenhafte Spielzeug weiblicher Fantasie, ist in U n gnade von der Bühne abgetreten; Magruder in Phantasmen mystischer Ekstase verschwunden; Mr. Franciscus, der u n glückliche Sandy Bosch und Charlie La Rochelle sind tot; die Frau wurde zu einem Bild in einer Illustrierten und einem Häufchen Asche im Ofen. In der Nacht klopft Joanie zweimal an die Wand über ihrem Bett, sie weiß, dass ich sie hören und an sie denken werde. Wenn wir uns am Morgen sehen, ist sie kalt zu mir und redet nur mit Morgan. Die beiden Frauen u n terhalten sich über ihre Träume. Joanies Träume kreisen um große Marmorhallen und breite Wendeltreppen und Leuchter, die über ihrem Kopf flackern; Morgan träum t d avon, sich in Bürogebäuden oder Schlafsälen zu verirren, wo Korridore endlos von Zimmern wegführen und Fahrstühle auf ident i schen Stockwerken halten. Sie hat eine Nachricht für jema n den, möglicherweise mich, kann ihn aber nicht finden. Mein Traum ist stets derselbe: Ich stehe im Regen und sage jema n dem Lebewohl – ich bin sehr glücklich und winke dieser Pe r son zu, die weiter entfernt steht. Als ich mich abwende, kann ich mich ganz und unvorteilhaft sehen: schlampig, im fleck i gen Regenmantel, schnurrbärtig, mein plumper Leib durch die Abwesenheit der Person angeschwollen, so dass meine Brust sich wie die eines Gewichthebers ausgedehnt zu haben scheint. In diesem Augenblick fühle ich mich zwischen Strömen von Schmerz und Freude gefangen, ich stöhne, überwältigt von diesen beiden Gefühlen, und ich erwache; ich bin von einem goldenen Glanz geblendet und höre das Brechen von Glas.

Epilog
     
    Die Ikone kam am Samstagvormittag, als die beiden Frauen in West End Weihnachtseinkäufe machten und, wie ich vermut e te, nach diesem Schlüssel suchten, der sie, wenn man ihn u m drehte, wieder zu Schwestern und Vertrauten machen würde, wie sie es in Eilat gewesen waren. In zwei Stunden würden sie zurückkommen, Joanie mit zwei oder drei Kleinigkeiten, die sie für sich selbst gekauft hatte, Morgan unglücklich und m ü de, ohne etwas.
    Ich schnitt die Paketschnur mit der Schere durch. Magruder hatte sie achtlos eingepackt, in Zeitung und zwei Lagen Pac k papier gewickelt, von Bindfaden notdürftig zusammengeha l ten. In diesem zusammengeknüllten Nest aus Papier lag die Ikone. Die Sonne spiegelte sich darin, und die vergoldeten Flächen leuchteten ein wenig matt. Wegen der schlampigen Verpackung Magruders war ein Splitter von der Größe eines Shillingstücks abgebrochen. Ich wollte sie nicht haben, daher packte ich sie wieder ein, nachdem ich das abgesplitterte Stück wieder an die richtige Stelle gesetzt hatte. Das wunderschöne barbarische Ding sah in Camden Town so fehl am Platz aus wie in Dublin, es war, wie wir alle, im Grunde genommen ein Verbannter. Die Energie seiner Erschaffung verlangte ein op u lenteres, schrofferes Umfeld, etwa das Licht der Provence, einen Ort voll Menschen in Pelzmänteln und schweren, spi t zenbesetzten Gewändern, eine Welt der Höfe und Kirchen, alles kreisend und zusammengeschweißt und im Traum eines Tanzes gefangen. Ich packte sie wieder ein und brachte sie nach unten, wo ich sie neben einen Stapel alter Bücher legte. Ein Jahr später schenkte ich sie einem neuen Kunstmuseum in Highland Park, Illinois, wo sie auf extravagante Weise fehl am Platz wirkte. Das Museum schickt mir Kataloge jeder neuen Ausstellung, die sie machen, aber ich habe die Ikone niemals in einer Liste auftauchen sehen; sie muss immer noch in ihrer Verpackung sein, in einem anderen Keller, oder sie liegt i r gendwo, in erzwungener Weise vergessen, auf einem Regal mit Neuerwerbungen.
     
    Jahre später, als wir alle in den Ferien in Amerika waren und durch den Genus zahlreicher Cocktails Abenteuerlust verspü r ten, fuhren Joanie, Morgan und ich an einem Freitagabend E n de Dezember zu dem Museum. Die Türen waren verschlossen, und als wir durch die Glastüren
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