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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Autoren: Bill Bryson
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einen mustern, als würden sie das Risiko abwägen, das sie auf sich nähmen, wenn sie einen der Brieftasche wegen um die Ecke brächten und die Leiche irgendwo draußen in den Sümpfen verschwinden ließen.
In Iowa steht man im Mittelpunkt des Interesses. Man ist das Aufregendste, das der Stadt widerfahren ist, seit vergangenen Mai ein Tornado den alten Frank Sprinkel und seinen Traktor hinweggerafft hat. Wen man auch trifft, jeder tut so, als würde er einem mit Freuden sein letztes Bier abtreten und einen mit seiner Schwester schlafen lassen. Jeder ist glücklich und freundlich und seltsam gleichmütig.
    Als ich das letzte Mal zu Hause war, ging ich zu Kresge’s in Downtown und kaufte jede Menge Postkarten, um sie nach England zu schicken. Ich suchte die lächerlichsten Karten aus, die ich finden konnte: einen Sonnenuntergang über einem Haufen Viehfutter; eine Abbildung von Bauern, die unerschrocken vor einer Rolltreppe posierten, daneben die Überschrift »Wir sind in der Merle Hay Mall mit der Rolltreppe gefahren!« – diese Art Postkarten. Sie waren allesamt so absurd, dass ich mich an der Kasse schämte, so, als wollte ich unanständige Magazine kaufen. Ich hoffte, irgendwie den Eindruck zu erwecken, die Karten wären nicht für mich. Doch die Kassiererin betrachtete jede einzelne Postkarte interessiert und bedächtig – was Kassiererinnen, nebenbei bemerkt, auch immer mit unanständigen Magazinen tun.
    Als sie zu mir aufsah, hatte sie einen fast verklärten Blick. Sie trug eine schmetterlingsförmige Brille und eine Bienenkorbfrisur. »Die sind wirklich schön«, sagte sie. »Weißt du, Honey, ich bin schon in vielen Staaten gewesen und habe viele Orte kennen gelernt, aber ich kann dir sagen, dieser Staat ist so ziemlich der wundervollste, den ich je gesehen hab.« Sie hat tatsächlich wundervollste gesagt, und sie meinte, was sie sagte. Die arme Frau befand sich in einem Zustand unwiderruflicher Hypnose. Ich warf einen Blick auf die Karten, und zu meiner Überraschung begriff ich plötzlich, was sie meinte. Ich konnte nicht anders, als ihr zustimmen. Die Bilder waren wundervoll. Zusammen bildeten wir eine kleine Gemeinschaft stiller Bewunderung. Für einen kurzen, unvorsichtigen Augenblick war ich selbst so etwas
wie gleichmütig. Das war ein eigenartiges Gefühl, das allerdings schnell vorüberging.

    Mein Vater mochte Iowa. Er hat sein ganzes Leben in diesem Staat verbracht und müht sich heute dort mit der Ewigkeit ab, auf dem Glendale-Friedhof in Des Moines. Jedes Jahr packte ihn jedoch still und heimlich ein irrsinniges Verlangen, Iowa zu verlassen und in Urlaub zu fahren. Jeden Sommer belud er ohne große Vorankündigung das Auto bis zum Gehtnichtmehr, scheuchte uns hinein und brach auf zu fernen Zielen, kehrte nochmal um, als wir schon fast an der Staatsgrenze waren, weil er seine Brieftasche vergessen hatte, und fuhr wieder los. Jedes Jahr war es dasselbe. Jedes Jahr war es schrecklich.
    Die Langeweile war tödlich. Iowa liegt mitten in der weitesten Ebene diesseits des Jupiter. Steigt man irgendwo in diesem Staat auf ein Dach, wird man fast überall nichts als wogende Kornfelder sehen, so weit das Auge reicht. Iowa liegt in jeder Himmelsrichtung 1000 Meilen vom Meer entfernt, 400 Meilen vom nächsten Berg, 300 Meilen von Wolkenkratzern, Straßenräubern und Sehenswürdigkeiten, 200 Meilen von Menschen, die nicht ständig mit dem Finger im Ohr herumstochern, bevor sie die Frage eines Fremden beantworten. Will man von Des Moines mit dem Auto irgendeinen Ort von zumindest flüchtigem Interesse erreichen, so bedeutet das eine Reise, die man in anderen Ländern als abenteuerlich bezeichnen würde. Es bedeutet Tage unablässiger Langeweile in einer brütend heißen Stahlkapsel auf einem endlosen Highway.
    Soweit ich mich erinnere, sind wir immer in einem großen, blauen Rambler-Kombi in die Ferien gefahren. Es war ein träges, derbes Auto – mein Dad fuhr immer träge, derbe Autos, bis er in die Wechseljahre kam und nur noch flotte, rote Cabriolets kaufte –, hatte aber den Vorteil der Geräumigkeit. Zwischen meinem Bruder, meiner Schwester und mir auf dem Rücksitz und meinen Eltern vorne im Wagen lagen Meilen. Sie befanden
sich praktisch in einem anderen Raum. Wir verübten heimliche Anschläge auf den Picknickkorb und machten bald eine Entdeckung: Wenn man ein paar Ohio-Blue-Tip-Streichhölzer in einen Apfel oder ein hart gekochtes Ei steckte und das stachelschweinartige Gebilde lässig aus dem
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