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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Autoren: Bill Bryson
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Viewmaster und eine Packung Schaubilder mit dem Titel »Iowa – Unser prachtvoller Staat« zum Geburtstag. Ich erinnere mich, dass ich schon damals dachte, mit der Pracht sei es nicht weit her. Mangels landschaftlicher Besonderheiten, Nationalparks, Schlachtfelder oder berühmter Geburtsstätten war das ganze schöpferische 3-D-Können der Viewmaster-Leute gefordert. Sah man durch den Viewmaster und betätigte den weißen Hebel, erschien, wie ich mich entsinne, eine eindrucksvoll dreidimensionale Aufnahme des Geburtsortes von Herbert Hoover, gefolgt von Iowas zweitem
bedeutendem Kulturdenkmal, der Little Brown Church in the Vale (die zu dem Lied inspirierte, dessen Melodie niemand richtig kennt). Weiter ging es mit der Highway-Brücke über den Mississippi River bei Davenport (alle Autos schienen in Richtung Illinois zu eilen), einem wogenden Kornfeld, der Brücke über den Missouri River bei Council Bluffs, bis erneut die Little Brown Church in the Vale zu sehen war, diesmal aus einer anderen Perspektive. Schon damals dachte ich, das Leben müsse mehr zu bieten haben als das.
    Dann, an einem grauen Sonntagnachmittag – ich war ungefähr zehn – sah ich im Fernsehen einen Dokumentarfilm über die Filmproduktion in Europa. Ein Ausschnitt zeigte Anthony Perkins, wie er in der Abenddämmerung die abschüssige Straße irgendeiner Stadt entlangging. Ich weiß heute nicht mehr, ob es Rom oder Paris war, jedenfalls war es eine Straße mit Kopfsteinpflaster, die im Regen glänzte, und Perkins vergrub sich tief in einem Trenchcoat, und ich dachte: »Mensch, c’est moi! « Ich begann National Geographics zu lesen, nein, zu verschlingen, mit all den Aufnahmen von freundlichen Lappen, von nebelumwobenen Schlössern und alten Städten mit grenzenlosem Charme. Von diesem Augenblick an wollte ich ein europäischer Junge sein. Ich wollte einem Park gegenüber im Herzen einer Stadt wohnen und von meinem Schlafzimmerfenster aus auf eine Landschaft aus Hügeln und Häuserdächern blicken. Ich wollte Straßenbahn fahren und fremde Sprachen verstehen. Ich wollte Freunde, die Werner und Marco hießen, kurze Hosen trugen, auf der Straße Fußball spielten und Holzspielzeug besaßen. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum. Ich wollte, dass meine Mutter mich in einen Laden mit einer hölzernen Brezel über der Tür schickt, um Baguette zu kaufen. Ich wollte aus meiner Haustür treten und irgendwo sein.
    Sobald ich alt genug war, ging ich fort. Ich ließ Des Moines und Iowa und die Vereinigten Staaten und den Vietnam-Krieg und Watergate hinter mir und ließ mich am anderen Ende der
Welt nieder. Als ich kürzlich nach Hause zurückkehrte, war es, als käme ich in ein fremdes Land, voller Serienmörder, Sportmannschaften in den falschen Städten (die Indianapolis Colts? die Toronto Blue Jays?) und mit einem betagten, adretten Hohlkopf als Präsidenten. Meine Mutter kannte diesen betagten, adretten Hohlkopf aus seiner Zeit als Sportreporter Dutch Reagan bei WHO Radio in Des Moines. »Er war nichts weiter als ein netter, pflegeleichter Blödmann«, sagt sie.
    Wenn ich es mir recht überlege, trifft diese Beschreibung auf die meisten Leute in Iowa zu. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will ganz und gar nicht andeuten, die Leute in Iowa seien geistig zurückgeblieben. Es sind zweifellos intelligente und vernünftige Menschen, die trotz ihres angeborenen Konservatismus immer bereit waren, eher einem gewissenhaften, klar denkenden Liberalen ihre Stimme zu geben statt einem schwachsinnigen Konservativen. (Ein Umstand, der Mr. Piper beinahe in den Wahnsinn trieb.) Außerdem verfügt Iowa – ich bin stolz, das sagen zu können – über die niedrigste Analphabetenquote der Nation: 99,5 Prozent der Erwachsenen können lesen. Wenn ich behaupte, die Menschen in Iowa seien irgendwie blöd, so meine ich damit, sie sind gutgläubig, liebenswürdig und aufrichtig. Sie sind unsagbar langsam, sicher. – Wenn man in Iowa jemandem einen Witz erzählt, kann man förmlich sehen, wie sein Gehirn mit seinem Gesichtsausdruck um die Wette läuft. Doch das bedeutet nicht, dass sie zu geistigen Hochleistungen nicht in der Lage sind; diese Fähigkeit wird lediglich kaum genutzt. Der einfältige, unbeirrbare Glaube an Gott, an den Boden und an die Mitmenschen trübt ihren Verstand.
    Vor allen Dingen sind die Menschen in Iowa freundlich. Betritt man als Ortsfremder im Süden ein Restaurant, wird alles still, und man merkt, dass die übrigen Gäste
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