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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Autoren: Bill Bryson
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in Des Moines geboren zu sein, denn es bedeutet, nicht anderswo in Iowa auf die Welt gekommen zu sein. An den Verhältnissen in Iowa gemessen, ist Des Moines ein Mekka des Kosmopolitismus, ein dynamisches Zentrum von Wohlstand und Bildung, wo die Leute dreiteilige Anzüge und dunkle Socken tragen, und das oft gleichzeitig. Wenn die Bauernsprösslinge von außerhalb während des jährlichen Basketballturniers der Highschools von Iowa für eine Woche die Stadt bevölkerten, machten wir uns in Downtown an sie heran. Wir boten uns herablassend an, ihnen zu zeigen, wie man mit einer Rolltreppe fährt oder mit einer Drehtür umgeht. Das war nicht unbedingt übertrieben. Als mein Freund Stan ungefähr sechzehn Jahre alt war, musste er fort, um bei seinem Vetter in einem abgelegenen, staubigen Dorf mit Namen Dog Water oder Dunceville oder einem ähnlich unmöglichen Nest zu wohnen – einer jener Orte, in denen alles neugierig auf die Straße rennt, wenn ein Truck einen Hund überfahren hat. In der zweiten Woche war Stan krank vor
lauter Langeweile und bestand darauf, mit seinem Vetter in die fünfzig Meilen entfernte Bezirkshauptstadt Hooterville zu fahren, um sich dort die Zeit zu vertreiben. Sie besuchten eine Bowlingbahn mit verzogenen Bahnen und angeschlagenen Kugeln, tranken danach Sodawasser mit Schokoladengeschmack und sahen sich in einem Drugstore ein Playboy- Heft an. Auf dem Heimweg seufzte der Vetter hochzufrieden und sagte: »Mensch, Stan, danke. Das waren die besten Stunden meines ganzen Lebens.« Das stimmte.
    Einmal musste ich nach Minneapolis und fuhr über eine Nebenstraße, um mir die Landschaft anzusehen. Doch es gab nichts zu sehen. Es war einfach öde und heiß, voller Getreide, Sojabohnen und Schweine. Ab und zu kommt man an einer Farm vorbei oder durch eine tote Kleinstadt, in der die Fliegen noch das Lebendigste sind. Ich erinnere mich an einen langen, schimmernden Highway, den ich meilenweit überblicken konnte. In der Ferne entdeckte ich einen braunen Fleck neben der Straße. Als ich näher kam, sah ich, dass es ein Mann war, der in einer Sechs-Häuser-Gemeinde mit einem Namen wie Spigot oder Urinal in seinem Vorgarten auf einer Kiste saß und mein Nahen mit ungeheurem Interesse verfolgte. Er beobachtete, wie ich vorbeisauste, und im Rückspiegel konnte ich sehen, dass sein Blick mir folgte, bis ich in der flimmernden Hitze verschwand. Das Ganze muss ungefähr fünf Minuten gedauert haben. Es würde mich nicht wundern, wenn er heute noch von Zeit zu Zeit an mich denkt.
    Er trug eine Baseballmütze. Ein Mann aus Iowa ist leicht zu erkennen, denn er trägt stets eine Baseballmütze mit Werbung für John Deere oder für eine Futtermittelgesellschaft, und sein Nacken ist von den Jahren, die er unter der sengenden Sonne auf seinem John-Deere-Traktor verbracht hat, ganz faltig. (Das mit der Sonne hat sich auch auf seinen Verstand nicht gerade günstig ausgewirkt.) Ein weiteres Erkennungsmerkmal ist sein lächerliches Aussehen, sobald er sein Hemd auszieht. Sein Hals
und seine Arme sind schokoladenbraun, sein Rumpf dagegen ist so weiß wie der Bauch einer Sau. In Iowa nennt man das Bauernbräune, und ich glaube, sie gilt als Auszeichnung.
    Die Frauen Iowas sind fast alle enorm übergewichtig. Man sieht sie samstags im Merle Hay Mall in Des Moines. Verschwitzt und fleischig, sehen sie in ihren Shorts und rückenfreien Tops ein bisschen aus wie Elefanten in Kinderkleidung. Sie brüllen ihre Kinder an und rufen Namen wie Dwayne und Shauna. Ausgerechnet Jack Kerouac hielt die Frauen von Iowa für die hübschesten im ganzen Land, aber ich bezweifle, dass er jemals an einem Samstag im Merle Hay Mall war. Die jugendlichen Töchter dieser dicken Frauen jedoch – und das ist mehr als eigenartig – sind durchweg äußerst reizvoll, so zart und herrlich gerundet, von so natürlich frischem Duft wie ein Korb voller Früchte. Ich weiß nicht, was mit ihnen geschieht, aber es muss schrecklich sein, eine dieser gut entwickelten Schönheiten zu heiraten, wohl wissend, dass in ihr eine Zeitbombe tickt, die sie eines Tages, vermutlich ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, zu etwas Riesigem und Groteskem anschwellen lässt, wie ein sich automatisch aufblasendes Schlauchboot, wo man den Stöpsel gezogen hat.
    Auch ohne diesen Beweggrund wäre ich vermutlich nicht in Iowa geblieben. Alles in allem fühlte ich mich dort niemals zu Hause, nicht einmal als kleiner Junge. Etwa 1957 schenkten meine Großeltern mir einen
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