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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Autoren: Bill Bryson
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vom Kaminsims. Mein Großvater stapfte zum Fenster und sah hinaus, konnte aber nichts erkennen. Es war eine pechschwarze Nacht. Also kroch er wieder ins Bett, sagte zu meiner Großmutter, dass es draußen scheinbar ziemlich stürmisch sei, und schlief weiter. Was er nicht bemerkt hatte, war, dass ein Tornado, die gewaltigste Kraft der Natur, direkt vor seiner Nase vorübergefegt war. Er hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren. Gut, dass er es nicht getan hat, denn dann wäre er wohl in seinen Sog geraten und in den nächsten Verwaltungsbezirk geschleudert worden.
    Als er und Grandma am Morgen erwachten, lachte wieder die Sonne. Sie waren überrascht, überall entwurzelte Bäume herumliegen zu sehen. Sie gingen nach draußen und entdeckten
staunend, dass sich eine Spur der Verwüstung in zwei Richtungen durch die Landschaft zog und haarscharf an ihrem Haus vorbeiführte. Ihre Garage war wie vom Erdboden verschluckt, doch ihr alter Chevy stand ohne einen Kratzer auf seinem Betonsockel. Von der Garage sollten sie nicht einen Splitter wiedersehen, aber irgendwann im Laufe des Tages brachte ein Farmer ihren Briefkasten, den er auf einem zwei Meilen entfernten Acker gefunden hatte. Bis auf eine kleine Beule war er unversehrt. So geht es zu, wenn ein Tornado durchs Land fegt. All die Geschichten von Tornados, die Kühe in die Luft wirbeln, um sie unverletzt auf einem vier Meilen entfernten Acker wieder abzusetzen, entsprechen voll und ganz der Wahrheit. Im Südwesten Iowas lebt eine Kuh, der das sogar zweimal passiert ist. Aus der ganzen Umgebung kommen die Leute, um sie zu sehen. Das allein verdeutlicht, wie geheimnisvoll Tornados sind. Es verdeutlicht auch ein wenig, womit man sich im Südwesten Iowas die Zeit vertreibt.
    Am Nachmittag erreichte ich kurz hinter Sioux Falls endlich die Grenze von South Dakota und fuhr dann durch Minnesota, den achtunddreißigsten Staat meiner Reise, der gleichzeitig der letzte unbekannte Staat dieser Reise sein würde. Eigentlich konnte ich ihn kaum mitzählen, denn ich streifte nur flüchtig seinen südlichen Rand. Jenseits der Felder zu meiner Rechten, nur ein paar Meilen entfernt, lag Iowa. Es war herrlich, wieder im Mittleren Westen zu sein, inmitten der wogenden Felder und der fruchtbaren, schwarzen Erde. Nach den Wochen im leeren Westen empfand ich die plötzliche Üppigkeit der Landschaft fast als berauschend. Gleich hinter Worthington, Minnesota, passierte ich die Grenze von Iowa. Wie gerufen kam die Sonne hinter den Wolken hervor. Ein Band aus goldenem Licht glitt über die Felder, und im Nu wurde der Nachmittag warm und frühlingshaft. Jede Farm machte einen gepflegten und ertragreichen Eindruck. Jedes Städtchen wirkte sauber und freundlich. Ich war hingerissen und konnte gar nicht fassen, wie schön die
Landschaft war. Sie hatte nichts Spektakuläres an sich. Es waren nur wogende Felder, aber jede Farbe war klar und leuchtend: das Blau des Himmels, das Weiß der Wolken, das Rot der Scheunen und das Schokoladenbraun der Erde. Es kam mir vor, als hätte ich dieses Land nie zuvor gesehen. Ich hatte keine Ahnung, dass Iowa so schön sein konnte.
    Ich fuhr nach Storm Lake. Irgendjemand hatte mir erzählt, dass Storm Lake ein hübsches, kleines Städtchen sei, also wollte ich hinfahren und es mir ansehen. Und wirklich, es war wunderschön. Das College-Städtchen mit seinen 8000 Einwohnern schmiegt sich an den blauen See, dessen Namen es trägt. Vielleicht lag es an der Jahreszeit, an der milden Frühlingsluft, an der frischen Brise, ich weiß es nicht, aber Storm Lake schien die perfekte Kleinstadt zu sein. Die kleine Downtown war solide und schlicht, voller alter Backsteinhäuser und alteingesessener Geschäfte. Außerhalb des Stadtkerns führten breite, baumreiche Straßen, jede einzelne gesäumt von herrlichen viktorianischen Häusern, zum See hinunter, an dessen Ufer sich ein Park ausbreitete. Ich stellte den Wagen ab und machte einen Spaziergang. Das ganze Städtchen war einfach makellos. Auf der anderen Straßenseite fuhr ein Junge auf einem Fahrrad und schleuderte Zeitungen auf die Veranden der Häuser, und ich könnte schwören, dass ich in einiger Entfernung zwei Männer in dunklen Anzügen forschen Schrittes die Straße überqueren sah. Und irgendwo, an irgendeinem offenen Fenster sang Deanna Durbin.
    Auf einmal wollte ich nicht, dass meine Reise zu Ende ist. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, nun zurück zum Auto zu gehen und in ein oder zwei
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