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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe
Autoren: Mathias Enard
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schimmelige Orangen, Backpfeifen an Missgestalten aller Art austeilen, an Einbeinige, Mongoloide, eine Horde Hungerleider, die wie ich um den Markt herumlungerten; ich fror, im Herbst, wenn die Stürme über die Stadt fegten und das Bettelvolk unter den Arkaden, in den Schlupfwinkeln der Medina, in Rohbauten Zuflucht suchte, wo man den Wächter bestechen musste, damit man ins Trockene durfte, war ich nächtelang durchnässt; im Winter ging ich in den Süden, wo ich auch nur auf Polizisten traf, die mich am Ende auf einer Polizeiwache mit fleckigen Wänden in Casablanca windelweich prügelten, um mich zu ermuntern, zu meinen Eltern zurückzukehren; ich ergatterte einen Platz in einem Lastwagen nach Tanger, ein wackerer Kerl, der mir erst die Hälfte seines belegten Brotes gab und dann eine Ohrfeige verpasste, weil ich mich weigerte, für ihn das Mädchen zu machen, und als ich bei Bassam vorbeischaute, als ich es wagte, wieder einen Fuß ins Viertel zu setzen, hatte ich Gott weiß wie viele Kilos abgenommen, meine Kleider waren zerlumpt, ich hatte seit Monaten kein einziges Buch mehr gelesen und war gerade achtzehn geworden. Es bestand wenig Aussicht darauf, wiedererkannt zu werden. Ich war erschöpft. Ich zitterte. Ich hielt mich sauber, so gut es ging, ich wusch mich im Hof von Moscheen unter dem vorwurfsvollen Blick der Hausmeisterinnen und Imamen, danach war ich gezwungen, so zu tun, als betete ich, nur um mich ein wenig auf den behaglichen Teppichen aufwärmen zu können, ich nahm einen Koran mit in eine Ecke und schlief im Sitzen, das Buch auf meinen Knien, und sah dabei aus wie inspiriert, bis ein wirklich Gläubiger sich darüber aufregte, dass ich über dem Heiligen Buch schnarchte, und mich mit einem Fußtritt und manchmal zehn Dirham hinausbeförderte, damit ich mich zum Henker scherte. Ich wollte Bassam treffen, er sollte zu meinen Eltern gehen und ihnen sagen, dass es mir leidtut, dass ich viel gelitten hatte und gerne wieder nach Hause zurückkehren würde. Ich erinnere mich, ich dachte oft an meine Mutter. Und auch an Meryem. In den härtesten, den grauenvollsten Momenten, wenn ich mich vor einem Parkhauswächter oder einem Polizisten demütigen musste, wenn der abscheuliche Geruch meiner Schande aus den Falten ihrer Kleider dampfte, schloss ich die Augen und dachte an den Duft von Meryems Haut, an jene wenigen Stunden, die ich mit ihr verbracht hatte. Es machte mich fertig, dass die Welt so schnell aus den Fugen geraten war.
    Man wird zum menschlichen Gegenstück einer Taube oder einer Möwe. Die Leute sehen uns, ohne uns zu sehen, manchmal traktieren sie uns mit Fußtritten, damit wir verschwinden, und wenige, sehr wenige machen sich Gedanken darüber, auf welcher Reling, auf welchem Balkon wir in der Nacht schlafen. Ich frage mich, was ich mir damals vorgestellt habe. Wie ich durchhielt. Warum ich nicht einfach nach zwei Tagen zu meinem Vater zurückgekehrt und auf das Sofa im Wohnzimmer niedergesunken bin; warum habe ich nicht bei der Stadtverwaltung oder wer weiß wo um Hilfe gebeten, vielleicht, weil in der Jugend eine unendliche Kraft steckt, eine Kraft, die alles an einem abgleiten lässt, sodass uns nichts wirklich erreicht. Zumindest während der ersten Zeit. Doch jetzt, nach zehn Monaten auf der Trebe, nach dreihundert Tagen der Schande, war ich am Ende. Ich hatte gebüßt, vielleicht. Und dabei waren mir keine Gedichte gekommen, keine philosophischen Gedanken über das Dasein, keine ernsthafte Reue, nur ein dumpfer Hass und ein verschärftes Misstrauen gegenüber allem, was »menschlich« hieß.
    Bevor ich Bassam aufsuchte, daran erinnere ich mich, habe ich gebadet. Es war ein schöner Frühlingsmorgen, ich hatte ein paar Kilometer außerhalb vom Stadtzentrum von Tanger Richtung Kap Spartel in einer Mulde am Fuß der Klippe geschlafen, nachdem ich eine Dose Thunfisch und ein Stück über einem Feuer aus Karton- und Zeitungsschnipseln geröstetes Brot verschlungen hatte. Ich hatte mich in den langen, auf einem Markt stibitzten Wollmantel gehüllt, der den ganzen Winter über mein Begleiter gewesen war, und war dann, gewiegt von der Brandung, eingeschlafen. Am Morgen lag das Mittelmeer ruhig da, ruhig und tiefblau, die aufgehende Sonne streichelte zart die Sandflecken zwischen den Felsen. Was soll’s, wenn ich mir einen abfror, ich hatte einfach große Lust auf diese Schönheit, auf diese Erholung im Wasser. Es war entsetzlich kalt. Ich wärmte mich ein wenig auf, indem ich schnell Richtung
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