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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe
Autoren: Mathias Enard
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sie befand sich im Erdgeschoss eines Wohnhauses, auf dem Boden lagen Teppiche, und an der Tür hing ein kupfernes Schild, auf dem stand »Muslimische Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts«. Bassam schien stolz darauf zu sein, ihnen ein verirrtes Schäfchen zuzuführen. Ich erzählte alles bis in die Einzelheiten, oder nahezu alles. Cheikh Nouredine hörte mir aufmerksam zu und blickte mir dabei in die Augen, ohne ein Anzeichen der Überraschung, als ob er die ganze Geschichte bereits kannte. Als ich fertig war, verharrte er einen Augenblick schweigend, ohne mich aus dem Blick zu lassen, dann fragte er mich: Bist du gläubig? Es gelang mir, mit »Ja« zu antworten, ohne zögerlich zu wirken. Du hast keinen Fehltritt begangen, mein junger Freund. Du hast dich von diesem Mädchen in eine Falle locken lassen. Sie ist die Verantwortliche, und dein Vater war nicht im Recht. Du warst schwach, gewiss, aber es ist deine Jugend, die dich gedrängt hat. Dein Vater ist der Schuldige, er hätte die Frauen in der Familie besser beaufsichtigen, ihnen Anstand einschärfen sollen. Wäre deine Cousine anständig gewesen, wäre nichts von alledem geschehen. Bassam unterbrach ihn: Cheikh, sein Vater verbreitet im ganzen Viertel, dass er keinen Sohn mehr hat, dass er ihn enterbt hat.
    Nouredine lächelte traurig. Solche Dinge lassen sich vielleicht mit der Zeit wieder einrenken. Jetzt geht es um dich. Bassam sagt, du seist fromm, ernsthaft, arbeitsam und dass du Bücher magst, stimmt das? Ja, klar. Äh, also für die Bücher, stammelte ich.
    Innerhalb von fünf Minuten war ich eingestellt als Buchhändler der »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts«; man gab mir ein winziges Zimmer, das auf den Hinterhof hinausging, und einen Lohn. Keine goldene Brücke, aber trotzdem ein wenig Taschengeld. Ich konnte es nicht fassen. Ich dankte Cheikh Nouredine überschwänglich, war aber darauf gefasst, dass irgendetwas Unvorhergesehenes die Sache kippen ließe. Aber nein. Es war ein echtes Wunder. Sie gaben mir ein paar Dirham Vorschuss, damit ich mir Kleidung und Schuhe kaufen konnte; Bassam begleitete mich. Er war sehr stolz und lächelte die ganze Zeit über. Hab ich es nicht gesagt, sagte er, hab ich dir nicht gesagt, dass ich eine Lösung gefunden habe. Du wirst sehen, dass es etwas nützt, in die Moschee zu gehen, meinte er.
    Er hatte diese »Gruppe des koranischen Gedankenguts« beim Freitagsgebet mit seinem Vater kennengelernt. Man sah sich, wurde warm miteinander und so weiter. Solche Leute braucht es, sagte Bassam. Sie kommen aus Arabien zurück und sind stinkreich.
    Wir streiften durch die Innenstadt wie Nabobs, um drei Hemden, zwei Hosen, Unterhosen und schwarze Schuhe zu kaufen, die ein bisschen eng zuliefen, ein bisschen spitz waren, die Stil hatten. Ich erwarb zudem einen Kamm, Haarwasser und Schuhcreme, ich war wieder blank, oder beinahe, aber glücklich, und Bassam ebenso, für mich. Er war so froh, dass ich aus der Patsche war, es war eine Freude, es zu sehen. Das wärmte mir das Herz mindestens ebenso sehr wie die glänzenden Treter. Ich umarmte ihn und zerzauste seine frisierte Mähne. Jetzt ziehen wir uns um, und dann drehen wir eine Runde, sagte ich. Wir baggern Mädchen an, angeln uns zwei hübsche Touristinnen und zeigen ihnen Allahs Paradies. Und vielleicht zahlen sie uns hinterher zum Dank zwei Bier. Bassam brummte irgendetwas, das ich nicht verstand, und dann, ja, ja, gute Idee, warum nicht. Er wusste genau, dass es mindestens eines zweiten Wunders am selben Tag bedurfte, um zwei freundliche Miniröcke zu finden, aber er spielte mit. Als wir ins Haus der »Verbreitung des koranischen Gedankenguts« zurückkehrten, um meine neuen Klamotten einzuweihen, war dort viel los; es war die Zeit des Nachmittaggebets, und es wurde nicht abgekürzt. Ich machte vier Verneigungen hinter Cheikh Nouredine, es kam mir sehr lange vor.

Ich war es einfach nicht gewohnt. In den folgenden zwei Jahren hatte ich alle Zeit der Welt, mich anzupassen. Meine Arbeit fürs »Koranische Gedankengut« war mehr als ruhig, was mir viel Muße zum Studium und zum Gebet ließ. Meine Buchhändlerarbeit bestand darin, Bücherpakete in Empfang zu nehmen, sie zu öffnen, die Kunststoffverschweißungen zu entfernen, die Bücher auf Regale zu stapeln und einmal pro Woche, am Freitag, einen Büchertisch am Ausgang der Moschee aufzubauen und sie zu verkaufen. Sie zu verkaufen ist eigentlich zu viel gesagt. Die meisten (kleine Broschüren,
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