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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe
Autoren: Mathias Enard
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Ärsche, Blondinen, schnelle Schlitten, Whisky und Knete vorkamen, alles Dinge, die uns so sehr fehlten, wie wir von ihnen träumten, da wir eingezwängt waren zwischen den Gebeten, dem Koran und Gott, der ein wenig wie unser zweiter Vater war, bis auf die Arschtritte. Wir setzten uns oben auf die Felsklippen über der Straße von Gibraltar, umgeben von phönizischen Gräbern, die einfach nur Löcher im Fels waren, vollgefüllt nicht mit antiken Gebeinen, sondern mit Chips-Tüten und Cola-Dosen, jeder mit Walkman und Ohrhörer, und schauten stundenlang dem Hin und Her der Fähren zwischen Tanger und Tarifa zu. Es war stinklangweilig. Bassam träumte davon, wegzugehen, sein Glück auf der anderen Seite zu versuchen, wie er sagte; sein Vater war Kellner in einem Restaurant für Geldsäcke an der Uferpromenade. Ich hatte nicht so viel mit der anderen Seite am Hut, mit Spanien oder Europa, mir gefiel, was ich in den Krimis las, das war alles. Mit meinen Romanen eignete ich mir eine Sprache an, lernte Länder kennen; ich war stolz darauf, sie zu kennen, sie für mich allein zu haben, ich hatte keinen Bock darauf, sie mir von einem Tölpel wie Bassam mit seinen Ambitionen vermiesen zu lassen. Was mir damals vor allen Dingen verlockend schien, war meine Cousine Meryem, die Tochter meines Onkels Ahmed; sie lebte allein mit ihrer Mutter, auf demselben Treppenflur wie wir, ihr Vater und ihre Brüder arbeiteten in Almería in der Landwirtschaft. Sie war nicht besonders schön, aber sie hatte große Brüste und einen prallen Hintern; zu Hause trug sie häufig hautenge Jeans oder halb durchsichtige Hauskleider, oh mein Gott, sie erregte mich furchtbar, ich fragte mich, ob sie es absichtlich tat, und in meinen erotischen Schwärmereien vor dem Einschlafen stellte ich mir vor, wie ich sie auszog, sie streichelte, mein Gesicht zwischen ihre riesigen Brüste legte, doch ich wäre nicht imstande gewesen, den ersten Schritt zu tun. Sie war meine Cousine, ich hätte sie heiraten können, aber sie zu befummeln war nicht drin. Ich begnügte mich damit, zu träumen und an den Nachmittagen, wenn wir dem Kielwasser der Schiffe hinterherschauten, mit Bassam darüber zu sprechen. Heute hat sie mir zugelächelt, heute trug sie dies und das, ich glaube, sie hatte einen roten Büstenhalter an und so weiter. Bassam schüttelte nur den Kopf, sie will dich, sagte er, so viel ist sicher, bagger sie an, sonst würde sie diese Nummer nicht abziehen, welche Nummer, fragte ich zurück, ist doch normal, dass sie einen Büstenhalter trägt, oder? Aber einen roten, Junge, weißt du, was das heißt? Rot soll scharf machen, und so weiter, stundenlang. Bassam war ein Einfaltspinsel, er hatte einen runden Kopf und kleine Augen, jeden Tag ging er mit seinem Alten in die Moschee. Er verbrachte seine Zeit damit, unglaubliche Pläne zu schmieden, um heimlich zu emigrieren, verkleidet als Zollbeamter, als Bulle; er träumte davon, einem Touristen die Papiere zu klauen und gut gekleidet, mit einem hübschen Koffer, in aller Ruhe das Schiff zu nehmen, als ob nichts wäre – ich fragte ihn, was willst du denn ohne Kohle in Spanien machen? Ich würde ein wenig jobben, bis ich mir etwas zusammengespart hätte, dann würde ich nach Frankreich gehen, antwortete er, nach Frankreich und dann nach Deutschland und von dort nach Amerika. Ich weiß nicht, warum er dachte, es sei leichter, von Deutschland aus nach Amerika zu gelangen. In Deutschland ist es sehr kalt, sagte ich. Und außerdem haben sie dort für Araber nichts übrig. Das stimmt nicht, sagte Bassam, sie mögen die Marokkaner, mein Cousin ist Schlosser in Düsseldorf, er ist superglücklich. Es genügt, Deutsch zu lernen, und schon respektieren sie dich anscheinend, so merkwürdig es ist. Und von ihnen bekommt man seine Papiere leichter als von den Franzosen.
    Wir tauschten uns über unsere Luftschlösser aus, die Brüste von Meryem gegen die Emigration; so sannen wir stundenlang nach, immer mit Blick auf die Meerenge, dann gingen wir zu Fuß nach Hause, er zum Abendgebet, ich in der Hoffnung, einmal mehr einen Blick auf meine Cousine zu erhaschen. Wir waren siebzehn, aber in unseren Köpfen waren wir eher wie Zwölfjährige. Wir waren nicht besonders schlau.
    Ein paar Monate später erhielt ich meine erste Tracht Prügel, einen Schwall Ohrfeigen, wie ich sie noch nie erhalten hatte, danach war ich halb betäubt und in Tränen aufgelöst, vor Schmerz und wegen der Demütigung, auch mein Vater weinte, er aus Scham,
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