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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe
Autoren: Mathias Enard
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Norden schwamm, hundert Meter vielleicht, die Strömung war stark, ich hatte zu kämpfen, um wieder an die Küste zurückzukommen. Ich ließ mich auf eine Sandinsel in der Sonne fallen; es war windstill, ich spürte nur den lauwarmen Quarz, und erschöpft und fast glücklich schlief ich wieder ein. Als ich zwei oder drei Stunden später aufwachte, brannte die Aprilsonne vom Himmel, und ich war hungrig. Ich aß den Rest des Brots vom Vorabend, trank viel Wasser; ich faltete den Mantel und verstaute ihn in meiner Tasche, brachte ein bisschen Ordnung in meine Kleider – mein Hemd war unter der Achsel gerissen, auf dem Rücken hatte es Flecken von Schmieröl; der Saum meiner Hose war völlig abgewetzt; die Streifen auf meiner grauen Jacke, die ich in einem islamischen Zentrum für Bedürftige erhalten hatte, waren nicht mehr zu erkennen. Ich fühlte mich fit, trotz allem. Bassam würde mir schon ein sauberes Hemd und Beinkleider geben. Ich hatte ihn seit Ende Dezember, seit meinem Fortgang nach Casablanca, nicht mehr gesehen; er hatte mir geholfen, soviel er konnte, indem er mir ein wenig Geld, etwas zu essen und einmal sogar Nachrichten von Meryem brachte: Ihre Mutter hatte sie zu ihrer Schwester geschickt, ins tiefste Rif. Ins Gefängnis sozusagen. Bassam entwarf weiter Luftschlösser, wie man nach Spanien gelangen könnte, und das letzte Mal, als wir uns gesehen hatten, wie immer am selben Platz über der Meerenge, gegenüber dem unerreichbaren Tarifa, hatte er gesagt, mach dir keine Sorgen. Geh nach Casa, und bis du zurück bist, habe ich einen Weg gefunden, wie wir rüberkommen. Ich konnte mir noch immer nicht vorstellen, was wir in Spanien ohne Papiere und ohne Geld anstellen sollten, abgesehen von herumreisen, um am Ende festgenommen und rausgeworfen zu werden, aber gut, es war ein schöner Traum.
    Gegen Mittag ging ich bei ihm vorbei; ich wusste, dass sein Vater auf Arbeit sein würde. Die Straßen des Viertels wiederzusehen ist mir sehr ans Herz gegangen. Ich ging sehr schnell, vermied es sorgfältig, am Lebensmittelgeschäft meiner Eltern vorbeizukommen, ich kam zu dem Gebäude, in dem Bassam wohnte, blitzschnell rannte ich die Treppe hinauf und klopfte wie ein Irrer an seine Tür, als würde ich verfolgt werden. Er war zu Hause. Er erkannte mich sofort, was mich über mein Aussehen beruhigte. Er bat mich herein. Er schnüffelte an mir und sagte, ich würde nicht übermäßig stinken für einen Landstreicher. Ich musste lachen. Schon möglich, ja, aber ich würde trotzdem gerne duschen und einen Happen essen, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, endlich irgendwo angekommen zu sein. Er gab mir saubere Kleider, ich blieb vielleicht eine Stunde im Badezimmer. Ich hätte nie gedacht, dass ein Wasseranschluss ein solch göttlicher Luxus sein könnte. In der Zwischenzeit hatte er ein Frühstück für mich vorbereitet, Eier, Brot, Käse. Er lächelte die ganze Zeit über, tat verschwörerisch. Er fragte kaum, was ich in den letzten drei Monaten getrieben hatte, nur: War’s gut in Casa? – aber er bedrängte mich nicht. Er war aufgeregt, stand ständig auf und setzte sich wieder hin, immer mit diesem Lächeln auf den Lippen. Komm, rück schon raus, sagte ich schließlich. Er zog ein Gesicht, als hätte er ein Huhn gestohlen. Rausrücken womit? Was meinst du damit? Gut, okay, ich erzähle es dir, ich glaube, ich habe etwas für dich gefunden, einen Platz, wo du in Ruhe bleiben kannst, wo man sich um dich kümmern wird. Er setzte wieder seinen lächelnden, verschwörerischen Gesichtsausdruck auf. Was für einen Platz denn, ein Heim? Ich vermutete hinter alledem ein verrücktes Reiseprojekt, eine der typischen Bassam-Geschichten. Nein, Mann, kein Heim, nicht mal ein Krankenhaus, es ist noch besser: eine Moschee.
    Was habe ich denn deiner Meinung nach in einer Moschee verloren, fragte ich.
    Das ist kein Platz wie die anderen, antwortete Bassam, du wirst sehen, die Leute sind anders.
    In der Tat, das konnte man sagen, sie waren anders. Sie trugen Bart und strenge, dunkle Anzüge. Abgesehen davon waren diese Islamisten, das stimmte, eher nett und großzügig. Cheikh Nouredine (er ließ sich Cheikh nennen, war aber kaum älter als vierzig Jahre) bat mich, ihm meine Geschichte zu erzählen, nachdem mich Bassam vorgestellt hatte: Hier ist der, von dem ich erzählt habe, Cheikh, er ist ein echter Gläubiger, aber er ist in Not. Dann wird Gott sich seiner annehmen, antwortete der Cheikh. Die Moschee war eigentlich keine Moschee,
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