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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe
Autoren: Mathias Enard
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vorstellen, meinem Vater oder meiner Mutter ohne Scham zu begegnen. Das ging mir häufig im Kopf herum, wenn ich freitags hinter meinem Büchertisch saß: Ich dachte, eines Tages werde ich sie wiedersehen, das ist unvermeidlich. Ich wusste, dass sie sich sogar weigerten, meinen Namen öffentlich zu erwähnen; ich fühlte vage, dass Bassam etwas vor mir verbarg, dass er es vermied, von meiner Familie zu sprechen, wenn ich ihn danach fragte: Er antwortete stets, keine Sorge, keine Sorge, sie werden es überstehen, dann wechselte er das Thema. Meine Mutter fehlte mir.
    Abends unternahmen Bassam und ich Streifzüge durch die Stadt. Wir verbrachten wesentlich weniger Zeit als früher mit der Betrachtung der spanischen Küste und wesentlich mehr mit der Betrachtung der Pos der Mädchen auf den Straßen. Tanger hatte den Vorteil, groß genug zu sein, sodass wir uns außerhalb unseres Viertels frei fühlten; manchmal genehmigten wir uns sogar zwei Bier in einer verschwiegenen Bar; ich musste stundenlang Überzeugungsarbeit leisten, bis Bassam einverstanden war, er zögerte bis zum letzten Augenblick, doch die Aussicht auf Ausländerinnen gab schließlich den Ausschlag. War er erst mal in der Kneipe, schwankte er noch fünf Minuten zwischen Cola und Bier, schließlich landete er immer beim Alkohol, um dann hinterher stundenlang mit sich selbst ins Gericht zu gehen und ein Kilo Mentholbonbons zu lutschen, um den Geruch zu verbergen. Nicht weit entfernt von der Bar gab es eine hübsche französische Buchhandlung, die frisch renoviert war und in der ich immer gerne herumtrödelte, ohne etwas zu kaufen, denn die Bücher waren viel zu teuer für mich. Aber zumindest konnte ich ein wenig nach der Buchhändlerin schielen, immerhin eine Kollegin. Ich traute mich nie, das Wort an sie zu richten. Sie trug ohnehin einen Ehering und war um einiges älter als ich.
    Dann, unabänderlich, begleitete ich Bassam nach Hause, kehrte in mein winziges Zimmer im »Haus der Verbreitung« zurück, schnappte mir einen Krimi und las eine oder zwei Stunden, bevor ich einschlief. Der Bouquinist des Viertels hatte einen unerschöpflichen Vorrat an Krimis in seinem Hinterzimmer, keine Ahnung, woher er sie hatte: Krimis aus den Reihen Fleuve Noir (die billigsten), Masque, der Série Noire (meine Lieblingskrimis) und anderen Reihen unklarer Herkunft aus den 60er- und 70er-Jahren. Alle Buchtitel auf den Metallregalen zusammen bildeten ein riesiges unverständliches und verrücktes Gedicht, Mord von der Stange / Shaft und der Karneval für Killer / Perlen vor die Säue / Grauer Dienstag / Alarm aus Angst, ich hatte immer die Qual der Wahl, obwohl mir Krimis, die in den Vereinigten Staaten spielten, lieber waren als solche aus Frankreich – ihr Bourbon wirkte echter, ihre Schlitten waren größer und ihre Städte wilder. Der Bouquinist hat sicher keine Reichtümer angehäuft; tatsächlich verkaufte er außer seinem Vorrat an Krimis, den ich wahrscheinlich als Einziger regelmäßig durchsah, alte Schulbücher, uralte Zeitungen, überholte spanische Zeitschriften und einige ägyptische Groschenromane. Er war ein komischer Kauz, der seine Zeit damit zubrachte, im hinteren Teil seines Geschäfts insgeheim zu picheln, ein Freidenker mit einer Neigung zu Nasser, ein Original des Viertels. Er erzählte mir oft, dass die Hügel der Umgebung vor kaum zwanzig Jahren noch unbebaut waren, dass dort nur weit verstreut zwei, drei Häuser standen und dass es von uns bis zum Flughafen nur Felder gab. Ich stamme tatsächlich noch aus Tanger, sagte er.
    Nach der Bettlektüre blieben vier bis fünf Stunden Schlaf bis zum Morgengebet: Cheikh Nouredine kam und mit ihm ein Gutteil der Gruppe (außer Bassam, der sagte, er bete zu Hause, was ich ihm nicht abnahm). Wenn sie wieder gegangen waren, legte ich mich erneut bis acht oder neun Uhr ins Bett, dann frühstückte ich, und um Punkt halb zehn öffnete ich die Buchhandlung. Häufig kehrte der Cheikh um die Mittagszeit zurück, wir unterhielten uns kurz, er bat mich, dies oder jenes auf die Website zu stellen, er überprüfte den Lagerbestand der Bücher, bestellte die Titel, die ausgingen, in der Regel selbst (einen Karton Sexualität , einen Heldinnen , die Gesamtausgabe von Ibn Taymiya in zwanzig Bänden), dann ging er wieder seinen Geschäften nach. Eine Buchlieferung aus Arabien benötigte ungefähr einen Monat, bis sie uns erreichte, daher musste man vorausschauend sein. Anschließend hatte ich den ganzen Nachmittag über
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