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Straight White Male: Roman (German Edition)

Straight White Male: Roman (German Edition)

Titel: Straight White Male: Roman (German Edition)
Autoren: John Niven
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jemanden im Alter seiner Mutter gar nicht mal so klein war. Die in Leder gebundene Bibel auf dem Lesepult war bereits auf der richtigen Seite aufgeschlagen.
    Gute Schuhe sind wichtig, mein Sohn.
    Das waren sie allerdings: Seine handgenähten John-Lobb-Brogues hatten ihm das Leben gerettet. Allerdings nicht, ohne ihm ein gerüttelt Maß an Peinlichkeit zu bescheren.
    Auf der Brücke hatte er sein zweites Bein übers Geländer geschwungen, sich von der Brüstung abgestoßen und im nächsten Augenblick bemerkt, wie sich der Schnürsenkel seines linken Schuhs an einem hervorstehenden Bolzen verfing. Er stürzte abwärts, aber die doppelt geknotete Schleife stellte sich als stabil genug heraus, um sein gesamtes Körpergewicht zu tragen. »Einer dieser verdammten Schnürsenkel kostet vermutlich mehr als ein Paar durchschnittlicher Schuhe.« Tja, Braden, was sagst du jetzt? Kennedy knallte mit der Stirn gegen das Mauerwerk und baumelte dann kopfüber im Nichts. Das Blut strömte ihm in den Schädel und die schwarze Themse unter ihm hinweg. Er hatte erwartet, dass der Riemen jeden Augenblick reißen würde. Aber der Qualitätsschnürsenkel erledigte seinen Job, wie er ihn für die britische Oberschicht seit über hundert Jahren erledigte: Er hielt die Dinge zusammen. Kennedy hörte Schritte, Stimmen – und plötzlich rief jemand: »Um Himmels willen, wie sind Sie denn … warten Sie. Wir …« Hände wurden über das Geländer gestreckt, ergriffen seine Beine, zogen ihn hinauf: der Obdachlose und ein Freund, beladen mit Bier und Fusel. Offenbar hatten sie gerade einen Großteil seiner Spende in einem Schnapsladen verprasst. In der Tat eine lohnende Investition, Millie, da kannst du sagen, was du willst. Kaum war er auf die Beine gekommen, da ereilte ihn der Schock über das, was passiert war. Das Valium tat sein Übriges, und er verlor das Bewusstsein. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er in einem Krankenhausbett des St. Thomas Hospital an der Southbank gelegen – die Kehle noch ganz wund vom Auspumpen des Magens.
    Erneut fiel sein Blick auf die Bibel, diesen Unsinn. Es hatte eine Zeit gegeben, noch gar nicht lange her, in der Kennedy sich strikt geweigert hätte, dieses Theater mitzumachen. Er hätte diese katholische Versammlung schockiert und stattdessen ein Gedicht oder etwas Selbstgeschriebenes vorgetragen. Aber seine Mum hatte an diesen Unsinn geglaubt. Und er hatte vorerst die Nase voll davon, gegen die Regeln zu verstoßen. Im Augenblick erschienen ihm die Regeln sogar recht attraktiv.
    »Brüder und Schwestern«, begann er. Seine sanfte, melodische Stimme hallte von den steinernen Wänden wider. »Wir wissen, dass der, welcher Jesus den Herrn auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken …«
    O ja, das Rad des Schicksals drehte sich wirklich. Und manchmal tat es das sehr schnell.
    Die vergangene Woche, die Woche seiner Genesung, war einigermaßen reich an bemerkenswerten Wendungen gewesen. Im Krankenhaus hatte man beschlossen, ihn zur Beobachtung dazubehalten. Gegenüber dem behandelnden Arzt erwähnte er seinen dem Untergang geweihten, vom Krebs zerfressenen Penis. Der Arzt zog einen Kollegen aus der Onkologie zu Hilfe, um Kennedys geplagtes Organ zu untersuchen und … nun ja, den alten Dr. Beaufort aus der Harley Street einen Quacksalber zu schimpfen, wäre noch milde formuliert. Gut möglich, dass in der letzten Ausgabe des Ärzteblatts , die der gute Doktor in der Hand hatte, die Entdeckung des Penizillins gefeiert oder sogar der Aderlass als Allheilmittel propagiert wurde. Spenglers Engagement hätte Kennedy beinahe nicht nur die Integrität seines Drehbuchs, sondern deutlich mehr gekostet. Wie sich herausstellte, war eine Operation zwar unumgänglich, doch handelte es sich dabei bloß um einen kleinen Eingriff. Der Tumor war gutartig. Kennedy würde nur eine kleine Narbe bleiben, eine elfenbeinfarbene Schwiele an der Spitze seines Freudenspenders, und das war dann eigentlich auch schon alles. Gott schütze den staatlichen Gesundheitsdienst.
    Kennedy rief Spengler an. Er rechnete damit, bloß einen der Lakaien des Produzenten an den Apparat zu bekommen, war aber fest entschlossen, diesem dennoch ein paar klare Worte für seinen Boss mitzugeben. Und Spengler zu warnen, dass sein geliebter und ruinös überteuerter Arzt in Wahrheit ein irrer Schlachter war, den man nicht mal in die Nähe von Vieh lassen durfte. Entgegen Kennedys Erwartung nahm Spengler den Anruf persönlich entgegen. Er zeigte sich
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