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Straight White Male: Roman (German Edition)

Straight White Male: Roman (German Edition)

Titel: Straight White Male: Roman (German Edition)
Autoren: John Niven
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herabprasselte.
    Zum ersten Mal hatte er diesen Song auf dem Bahnhofsparkplatz von Limerick gehört. In dem alten Vauxhall Nova von Stevie Brennans Dad sitzend, hatten sie zugesehen, wie die Züge nach Dublin an ihnen vorbeirauschten. 1984. Er war fünfzehn Jahre jung gewesen. Jünger noch, als Robin jetzt war.
    Mit Morrisseys und Johnny Marrs nordenglischer Symphonie in seinem Kopf, seinen Lungen und seinem Herzen ließ er sich die Charing Cross Road Richtung The Strand hinuntertreiben, erfüllt von jenem tiefen Frieden, den einem – wie er nun wusste – nur das Wissen um das nahe Ende zu bescheren vermochte. Da kamen sie, die Durchschnittsmenschen, sie waren überall um ihn herum. Wie sie miteinander scherzten! Wie sie lachten! Die Luft dampfte silbrig vor ihren Mündern, strömte in Zwillingswolkenfahnen aus ihren Nasenlöchern. Diese armen Idioten. Verstanden sie denn gar nichts? Sie alle waren dem Tode geweiht. Irgendwann, in nicht allzu ferner Zeit, würden sie auf dem Sterbebett liegen, um den letzten Atemzug ringen und erkennen, dass er ihnen versagt blieb. Diese Idioten. Sie brachten es fertig, mit süffisantem Grinsen solche Dinge zu sagen wie: »Aber natürlich werden wir alle irgendwann sterben.« Waren diese Typen wirklich so knallhart, oder waren sie einfach nur geistig beschränkt? Hatten sie die Konsequenzen denn überhaupt nicht bedacht? Sie würden verdammt noch mal aufhören zu atmen.
    In seiner Kindheit hatte Kennedy manchmal nachts im Bett die Luft angehalten und sich vorgestellt, wie es sein würde zu sterben. Er hatte tief Luft geholt und sich gesagt: Das ist mein letzter Atemzug. Danach hatte er gewartet, bis er Sterne vor den Augen sah, bis alles verschwamm und seine Lungen den Brustkorb zu zerreißen drohten. Schließlich hatte er keuchend nach Luft geschnappt und … oh, welche Wonne das war, wenn sie wieder durch seine Bronchien strömte. Die Erkenntnis, dass noch weitere Atemzüge auf ihn warteten. Tausende. Millionen. Unendlich viele.
    Doch leider waren es eben nur endlich viele. Irgendwo lief ein Zähler mit. Wenn man zu Stoppuhr und Taschenrechner griff, konnte man vermutlich eine grobe Schätzung des persönlichen Guthabens an Atemzügen errechnen.
    Am Embankment nahm er die Abkürzung durch die U-Bahn-Station. Eine Frau telefonierte mit ihrem Freund. »Ja, Schatz, ich steige gerade in die U-Bahn. Ich bin spät dran. Soll ich irgendwas besorgen? In Ordnung. Bis nachher.« Solche Gespräche konnte man tagtäglich im Supermarkt mit anhören. »Hallo, ich bin’s. Ich bin zufällig im Supermarkt. Brauchen wir irgendwas?«
    Kennedy Marr – ein Mann, der niemanden zum Anrufen hatte, ein Mann, der den traurigen Moment, wenn im Adressbuch des Handys aus »Zuhause« schlicht der Vorname des Expartners wurde, nur zu gut kannte – prostete mit seiner Flasche dem Rücken der Frau zu, als diese Richtung Aufzug in der Menge verschwand. Auf euch, ihr Durchschnittsmenschen – mit eurem niemals versiegenden Vorrat an Liebe und Zuwendung.
    Durch den Ausgang der U-Bahn-Station erreichte er das Ufer. Auf einer Bank saß ein Obdachloser. Der Mann war jung, etwa im selben Alter wie Paige. Ach, Paige – ich hoffe, du findest dein Glück. Auf seinem Pappschild stand: » HUNGRIG, OBDACHLOS. BITTE HELFEN SIE MIR. « Kennedy griff in seine Manteltasche und holte die Geldbörse hervor. Darin befanden sich noch fast siebenhundert Pfund. Er drückte dem Obdachlosen das Geldbündel in die Hand, worauf dieser ihn fassungslos anblickte und den Mund gar nicht mehr zubekam.
    »Das …«
    »Quatsch. Weidamachen.«
    »Im Ernst … Sie sind betrunken.«
    »Unnobischdasbin. Froheweinachen.«
    Kennedy wankte von dannen und stieg die Treppe zur Brücke hinauf. Die orangefarbenen Taxischilder rasten unter ihm vorbei. Da war sie: die Themse. Düster trieb sie dahin, schwarz wie Öl glänzte sie im Mondlicht.
    Die Ellbogen auf der Brüstung und die Flasche in der Hand, starrte Kennedy ins Wasser, während er langsam wieder zu Atem kam. Was dieser Fluss schon alles erlebt hatte. Was für Extreme. »Flüssige Geschichte« hatte John Burns ihn genannt.
    Die Frostjahrmärkte der früheren Jahrhunderte, wenn der Fluss in seiner gesamten Breite mit über dreißig Zentimeter dickem Eis bedeckt war, auf dem Tausende Schlittschuh liefen und spazieren gingen, von Norden nach Süden, Süden nach Norden, von Putney nach Fulham. Wenn über Feuern auf dem Eis Kastanien geröstet wurden, die Kinder lachten und spielten. Und natürlich
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