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Straight White Male: Roman (German Edition)

Straight White Male: Roman (German Edition)

Titel: Straight White Male: Roman (German Edition)
Autoren: John Niven
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aufgesehen und ihn skeptisch gemustert. »Kennen wir uns?«
    »Ich bin Kennedy. Wir sind zusammen in Amerikanischer Literatur.«
    »Mmm«, hatte sie daraufhin mit dem selbstbewussten Desinteresse einer wohlhabenden Home-Counties-Göre gebrummelt.
    In der Hitze des Pubs lehnte Kennedy schwitzend an der Jukebox. »Oh, can’t you see me standing here? I’ve got my back against the record machine«, hieß es schon bei Aztec Camera, deren Version von »Jump« so schön, düster und traurig war. Ihr Sänger Roddy Frame hatte einmal gesagt, wenn man den Song langsamer spielen würde, klänge er genau wie »Sweet Jane«. Und dass er sich, wenn er diese Zeile sang, mit dem Rücken zur Musikindustrie stehen sah, was Kennedy irgendwann im NME gelesen haben musste. Vor beinahe dreißig Jahren, als er noch ein Teenager war. Keine Ahnung, warum einem so etwas im Gedächtnis blieb, obwohl so viele andere Dinge …
    Er schloss die Augen und versuchte, sich die Begegnung in der Mensa ins Gedächtnis zu rufen. Er sah, wie Millie das Buch zuschlug, noch einmal in den grünen Apfel biss, ihm keck in die Augen blickte, während das Sonnenlicht auf dem Lemonheads-Anstecker am Revers ihres braunen Samtjacketts glitzerte und auf ihre plissierte schwarze Bluse fiel. Damals, als sich Studentinnen noch nicht wie Pornosternchen anzogen, die am Set von Rosettenfieber Vol. 5 auf den Drehbeginn der nächsten Szene warten. Sie hatte einen kurzen Blick auf seinen dampfenden Teller voller Kohlehydrate geworfen und gesagt: »Frustessen, was?« Sie war so selbstsicher, so wunderschön gewesen und … wir waren doch fast noch Kinder, Millie. Bloß Kids. Kids – Kids – Kids.
    »Und was machst du sonst so, mal abgesehen von Amerikanischer Literatur?«, hatte sie ihn gefragt und damit wohl seine Kurse gemeint.
    »Ich bin Schriftsteller«, hatte Kennedy geantwortet.
    »Wirklich? Könnte ich denn irgendwo was von dir gelesen haben?«
    »Das wirst du schon noch«, hatte der einundzwanzigjährige Vollpfosten Kennedy Marr darauf erwidert.
    Warum hatte er sie bloß so wahllos und verdammt häufig betrogen, wenn ihm das doch vergleichsweise wenig Spaß gebracht hatte? Vermutlich waren die Hormone daran schuld.
    Obwohl, das konnte er als Erklärung nicht länger akzeptieren. Diesmal konnte er sich nicht herausreden. Nicht hier und jetzt, im Angesicht seines bevorstehenden Endes, des letzten großen Mysteriums. Nun war Aufrichtigkeit angesagt. Warum hatte er sie hintergangen? Sogar sein eigenes, winziges Kind hintergangen, noch während es in Millies Bauch heranwuchs? War es die Überzeugung gewesen, dass er etwas Besseres verdient hatte? Dass die üblichen Regeln für einen Mann von seiner Begabung nicht galten? Letzten Endes besaß er wohl einfach keinen moralischen Kodex. Und wenn Charakter nichts als Schicksal war, dann befand sich Kennedy jetzt genau dort, wo er sein sollte. Wo sein unbeständiges kleines Lumpensammlerherz, diese nach Verrat riechende Pfandleihe, ihn zwangsläufig hatte hinführen müssen.
    Und vielleicht war das ja eine ganz gute Definition dessen, was Schriftsteller taten: Sie befreiten diese Mördergrube von menschlichem Abfall. Sie gingen hinein und zogen den Toten und Sterbenden, ihren eigenen Leuten, die Zähne. Inmitten von Zerstörung und Verderben verdingten sie sich als Goldgräber und warfen die geplünderten Leichen anschließend auf den Scheiterhaufen. Graham Greenes Eissplitter im Herzen? Kennedy war sich nicht mal mehr sicher, ob das eine ausreichende Erklärung war. Sein Herz war ein Massengrab und er sein eigenes Exekutionskommando.
    Hätte es irgendwie anders laufen können? Vermutlich nicht. Nein, nur wenn er selbst jemand anderes …
    Dieser Gedanke schrie förmlich danach, in Alkohol ertränkt zu werden, der sich Gott sei dank in Reichweite befand. Da das betäubende Valium Kennedys Beine allmählich in Gummi verwandelte und die Vielzahl und Vielfalt der konsumierten Drinks nun rapide ihre Wirkung entfaltete, dauerte der Ausflug zur Theke unerwartet lange. Es war, als würde er das Deck eines durch die Gischt und die Wellen des Nordatlantiks pflügenden Fischtrawlers überqueren. Taumelnd rammte er einen Gast. Der breitschultrige Bürohengst mit der Barbour-Jacke über dem billigen Sakko verschüttete sein Bier.
    »Scheiße, pass doch gefälligst auf.«
    »Entschuldige, mein Fehler«, rief Kennedy, obwohl die Worte deutlich schneller als beabsichtigt herauskamen und noch dazu seltsam zusammengestaucht klangen.
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