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Stolperherz

Stolperherz

Titel: Stolperherz
Autoren: Boje Verlag
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und verschwitzt.
    »Bergauf ist gut«, erwiderte er lächelnd und zog die Tür des Stahlkorsetts zu, »bergab geht’s schon noch früh genug.«
    Als ich oben angekommen war, schlug mir die kühle Nachtluft entgegen. Ein leichter Wind wehte mir ins Gesicht und wirkte wie eine radikale Erfrischungskur. Ich nahm einen tiefen Atemzug, stützte mich auf die Abgrenzung und sah in den Himmel. Wie die letzten Nächte war auch diese Nacht sternklar. Ich zog die Kappe aus und öffnete meine Haare, die sofort von einem Windstoß zerzaust wurden.
    Ich dachte an das Glück, daran, dass es immer nur aus so kurzen Momenten besteht, und wie zerbrechlich es ist. Dass man es nicht einfrieren kann, nicht festhalten. Ich dachte an die Entropie, die Lex mir erklärt hatte. Was einmal gesagt, getan wurde, war nicht mehr rückgängig zu machen. Überhaupt war alles, was Lex sagte oder tat, von Bedeutung. Ich mochte ihn, und es war schön, an ihn zu denken. Sofort stieg ein warmes Gefühl in mir auf. Anders als an Greg, denn sobald ich an ihn dachte, kam ich ins Schwitzen. Er verwirrte mich; in seiner Nähe fühlte ich mich so schwach wie nie zuvor und gleichzeitig so stark. Zum ersten Mal seit Langem dachte ich an mein Herz, das während der gesamten Tour bis jetzt so gut durchgehalten hatte. So gut, dass ich immer wieder vergessen hatte, dass ich eigentlich krank war. Bis vor ein paar Wochen wäre es undenkbar gewesen, dass ich mal nicht an mein krankes Herz dachte, immerhin kreisten meine Gedanken um nichts anderes. Doch jetzt, in diesem Augenblick, war ich nicht nur einfach frei, ich fühlte mich befreit . Befreit aus einem Gedankenkarussell, das sich ausschließlich um meine Krankheit gedreht hatte. Der Wind wehte in meinen Haaren, und es fühlte sich an, als ob er das Gedankenkorsett, in das ich so viele Jahre eingeschnürt gewesen war, ebenfalls weggeweht hatte. Mein Brustkorb fühlte sich weiter und größer an, so, als ob da, wo früher außer für mein krankes Herz kein Platz gewesen war, jetzt auf einmal so viel mehr Raum war.
    »Red«, sagte eine vertraute Stimme hinter mir.
    Greg hatte sich hinter mich gestellt und legte nun seine Arme um mich. Ich hielt die Augen geschlossen, denn wenn das nur ein Traum war, dann wollte ich nicht aufwachen.
    »Da bist du ja. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.«
    Greg streifte meine zerzausten Haare von der rechten Schulter und legte sein Kinn darauf. Ich spürte seinen Atem unterhalb meiner Nackengrube und ein Kribbeln ging augenblicklich durch meinen ganzen Körper.
    »Du riechst gut«, flüsterte er in meine Haare, »wie Veilchenschokolade.«
    Obwohl ich noch immer die Augen geschlossen hielt, musste ich lächeln. Hatte da der coolste Bassist, den die Welt kannte, gerade gesagt, dass ich nach Veilchenschokolade roch?
    »Ich meine, nicht, dass ich den Duft von Veilchenschokolade kenne«, ergänzte Greg leise, »aber genau so stelle ich ihn mir vor.«
    Dann nahm er mein Kinn in seine Hand und schob es sanft zu meiner Schulter, auf der sein Gesicht lag. Meine Augen blieben geschlossen und ich spürte seinen Atem an meinem Mund. Und noch bevor ein weiterer Gedanke meinen Kopf erreichte, berührten sich unsere Lippen.
    *
    Einsteins Relativitätstheorie besagt, dass der Begriff von Zeit relativ ist. Immer, wenn ich im Wartezimmer sitze und auf meine Herzwerte warte, ist das ein unangenehmes Warten, das sich wie Kaugummi zieht und viel länger anfühlt, als es zeitlich gesehen ist. Doch jetzt, als ich mit Greg auf der Dachterrasse eines ehemaligen Bunkers unter einem grandiosen Sternenhimmel stand und wir uns küssten, verging die Zeit wie im Flug. Trotzdem hatte dieser Moment etwas von Ewigkeit, etwas, das mich Zeit und Raum vergessen ließ.
    Ich weiß nicht, wie lange wir beide da so standen, als ich ein blaues Licht unter uns im Augenwinkel wahrnahm, gefolgt von einem geschäftigen Treiben vor dem Bunker. Ich öffnete meine Augen und blickte hinunter. Und das, was ich sah, erstaunte mich nicht. Ich hatte es zwar nicht so erwartet, aber trotzdem war es keine Überraschung. Zwei Polizeiwagen standen vor dem Bunker, rechts und links neben dem weißen SUV meiner Mutter, aus dem sie gerade stieg.
    Sie musste mit Flockes Mutter gesprochen und dann unsere Fährte aufgenommen haben; ich wusste, dass Flocke seiner Mutter die Wahrheit gesagt und auch grob erklärt hatte, wie unsere Tour verlaufen würde.
    »Was ist denn da unten los?«, fragte Greg mit einem Blick über das Geländer.
    Schnell raffte
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