Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
talon013

talon013

Titel: talon013
Autoren: Das vergessene Land
Vom Netzwerk:
Talon Nummer 13

    „Das vergessene Land“

    von
    Thomas Knip

    Eser Kru blickte den jungen Mann lange und schweigend an. Seine braunen Augen bohrten sich förmlich in die Gestalt, die vor ihm auf dem steinernen Boden kniete und den Kopf gesenkt hielt.
    „Es ist gut“, sagte er schließlich und entließ den Boten mit einer beiläufigen Handbewegung. Der Mann nickte kurz und beeilte sich, den weitläufigen Saal so schnell wie möglich durch eine der Seitentüren zu verlassen. Zurück blieb der schwarze Hüne, der den Raum mit weiten Schritten durchquerte. Wie in einem inneren Dialog gefangen beschrieben seine Hände Gesten, die eine Diskussion zu unterstreichen schienen.
    Die Stämme der Umgebung lehnten sich noch immer gegen ihn auf. Und aus den kleineren Städten, die am Rande seines Territoriums lagen, schienen sich die Milizen unter hohen Verlusten mehr und mehr gegen seine Kreaturen durchzusetzen. Grollende Laute lösten sich von den Lippen des Hünen. Mitten in der Bewegung blieb er stehen. Seine Augen fixierten einen Punkt, der weit jenseits des Raumes lag. Nichts lief so, wie er es erwartet hatte. Viele der Menschen, die ihn auf seinem Weg zurück in den Dschungel begleitet hatten – teils freiwillig, teils durch seine Macht ihrer Gedanken beraubt –, waren in den Kämpfen der letzten Wochen gefallen. Er besaß kaum noch genügend Männer und Frauen, um den Tempel zu sichern.
    Er wollte nicht mehr, als die Vergangenheit zurückzuholen. An jenem Punkt anzuknüpfen, als ihn Shion seine Kräfte entzogen hatte und ihn aus diesem Gebiet verbannte – und damit der Quelle der Macht entzog, die seine Familie für Generationen die Herrschaft über dieses Gebiet gesichert hatte.
    Die Vergangenheit …
    In Eser Kru kroch ein Gedanke empor. Zuerst nicht mehr als der Schatten eines Bildes, das in ihm aufflammte wie ein Licht. Er besah sich seine Handflächen. Sie schienen aus einem inneren Feuer heraus zu glühen, das in den Kerben unter der Haut dunkel aufleuchtete. Kurz schlossen sich die Finger zur Faust, dann streckten sie sich wieder. Die Gedanken des Hünen verloren sich mehr und mehr in den Betrachtungen seiner Hände, tauchten hinab in das feine Gespinst aus Falten und Narben.
    Dünne schwarze Fäden lösten sich von den Fingerspitzen und tanzten durch den Raum wie Spinnenweben, die von einem Windhauch davongetragen wurden. Immer weiter verwoben sich die Fäden, sammelten sich zu dicken Strängen nachtschwarzen Glanzes, die sich ihrerseits auffächerten und sich Tüchern gleich über alles legten, das den Saal ausfüllte.
    Eser Kru stand regungslos inmitten des unwirklichen Bildes. Die Narbe in Form eines Ovals auf seiner Stirn leuchtete dunkel auf. Schwarze Tropfen sammelten sich am unteren Rand der Mulde über seinen Augen und perlten über die nackte Haut nach unten, bevor sie von seinem Kinn zäh zu Boden tropften. Seine gewaltige Brust hob und senkte sich unter den schweren Atemstößen, die seinem Mund entwichen.
    Die Schwärze durchwob den Raum in einem fein gesponnenen, gleichmäßigen Muster, das sich aus komplexen geometrischen Formen zusammensetzte und wie die Oberfläche eines Ozeans wogte.
    Ein leises Knistern zog sich an den dünnen Fäden entlang und erfüllte die Luft mit einem betäubenden Rauschen. Schweiß sammelte sich auf der Stirn des Hünen, der leicht auf der Stelle wankte. Seine Lippen zitterten, während er unaufhörlich kaum verständliche Beschwörungsformeln murmelte. Der Boden unter seinen Füßen begann schwach zu vibrieren. Mehrere der alten Steinplatten krachten leise auseinander und verschoben sich ineinander. Unter ihrem Fundament quoll weitere Schwärze hinzu, die auf die großgewachsene Gestalt zuflog und sich mit seiner Form vermengte.
    Das Licht, das in breiten Bahnen durch die hohen Fensteröffnungen in den Saal fiel, wurde blasser und verlor schnell an Intensität. Ein farbloses Zwielicht erfüllte die Luft und warf harte Schatten.
    Dann war es, als ob ein Damm barst und sich die schwarzen Wirbel wie lange aufgestautes Wasser einen Weg bahnten. Sie rauschten durch den Saal, brachen sich an den ehernen Wänden, um dann jeden Ausgang zu suchen, den sie fanden. Binnen von Sekunden ließ es die Mauern der Tempelanlage hinter sich und brach sich wie eine Welle einen Weg durch das weit geschwungene Grün des Dschungels.
    Um ihn herum drang ein entsetztes Schreien und Rufen an die Ohren des Hünen, der noch immer in seinem eigenen Bann gefangen war. Doch so schnell die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher