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Stolperherz

Stolperherz

Titel: Stolperherz
Autoren: Boje Verlag
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es. Paps hatte irgendwann angefangen, es »Stolperherz« zu nennen. Das passte allerdings nicht ganz zu der Bedeutung meines Namens – Sanny – die niederländische Interpretation der amerikanischen Sunny, was Sonnenschein bedeutete. Paps war Niederländer und er hatte den Namen damals, höchstwahrscheinlich in hoffnungsvoller Erwartung eines echten Sonnenscheins, ausgesucht. Dass es sich bei seinem Sonnenschein ganz schnell um ein Sorgenkind handeln würde, das hatte er sicher nicht erwartet. Eigentlich hätte ich Sanny van Veen heißen sollen, aber Lisa hatte ihren Mädchennamen Tabor durchgesetzt, was angesichts ihrer universellen Durchschlagskraft ja auch kein Wunder war.
    »Na, mein kleines Stolperherz«, hatte er gesagt, »das wäre doch gelacht, wenn unsere Sanny nicht mindestens Olympiasiegerin im Vierhundert-Meter-Lauf wird. Oder zumindest im Sprint!«
    Mittlerweile hatte er wohl eingesehen, dass es mit dem Olympiasieg nichts werden würde, denn ich war kaum in der Lage, einen Spaziergang zu überstehen, ohne aus der Puste zu kommen. Vom Sportunterricht ganz zu schweigen. Ich war oft von diesen Stunden befreit und musste nur die leichteren, weniger anstrengenden Sachen mitmachen. Das Allerschlimmste war immer, am Turnhallenrand zuzusehen, wie die anderen Hallenfußball oder Volleyball spielten, während ich wie ein ausrangiertes, kaputtes Spielzeug in der Ecke saß. In diesen Situationen kam ich mir ganz und gar nutzlos vor, überflüssig, und hätte mich am liebsten einfach in Luft aufgelöst. Mein Herz war zur unsichtbaren Fußfessel geworden, mit der ich immer nur von den Zuschauerplätzen aus auf die Bühne des Lebens schauen konnte, ohne Aussicht auf eine Hauptrolle.
    Und so hatte ich mich in meiner Statistenrolle eingerichtet und oft war ich auch froh darüber. Es schien niemandem aufzufallen, wenn ich mal wieder einen Tag fehlte, oder früher nach Hause ging.
    Vor ein paar Jahren, am Anfang der 5. Klasse, hatte Frau Weinberg noch eine Karte gekauft, auf der »Gute Besserung« stand, und auf der alle unterschrieben hatten. Ich war mir sicher, dass einige gar nicht wussten, für wen die Karte überhaupt war. Dazu hatten sie ein großes Glas Fruchtgummi im Krankenhaus abgegeben, mit einer dicken roten Schleife drum herum. An die Schleife konnte ich mich noch genau erinnern, ich hatte sie kurz danach als Gürtel zu Karneval im Bett getragen.
    Meine Mutter fand nämlich die Idee, auf den Karnevalszug zu gehen, ganz und gar nicht originell. »Viel zu gefährlich! Denk nur an die ganzen Menschenmassen!«, redete sie auf mich ein. Und so blieb ich in meinem Piraten-Outfit mit rotem Gürtel im Bett und aß das Fruchtgummi-Glas halbleer. Ab und zu hatte ich später Besuch bekommen, wenn ich mal wieder ins Krankenhaus musste, und regelmäßig immer wieder neue Untersuchungen gemacht werden sollten. Luzie, meine Sitznachbarin aus der Klasse, kam vorbei, und einmal auch ein Nachbarsmädchen. Aber auch das war schon ein paar Jahre her. Heute kümmerte sich niemand mehr darum, was mit dem komischen Mädchen mit dem kaputten Herz aus der 9b los war. So wurde ich vom ohnehin stillen Mädchen zu einem noch stilleren. Mein Leben war ein einziger Totensonntag.
    Was also sollte ich, der unmutigste Mensch der Welt, bitte über Mut schreiben?
    *
    »Papa kommt heute nach Hause«, sagte meine Mutter und stellte mir meinen Vitamindrink auf den Frühstückstisch.
    »Super!« Ich nahm einen großen Schluck, während sie mich wachsam musterte. »Dann können wir endlich ins Kino. Ich freu mich schon total auf Iron Man .« Paps liebte Comic-Verfilmungen genauso wie ich, eine Gemeinsamkeit, für die Lisa weniger als null Verständnis aufbringen konnte. Es war das Heldenhafte, der Mut und die Zuversicht, dass ein Einziger über sich hinauswachsen konnte und imstande war, alles zu verändern, was mich so an diesen Filmen faszinierte. Genau das Gegenteil von mir. Letztendlich wünschte sich doch jeder, etwas zu bedeuten. Für irgendwen, irgendwas.
    Meine Mutter zwang sich zu einem schmalen Lächeln, nickte stumm und ging zu dem großen Küchenblock in der Mitte des Raumes. Sie begann, Äpfel für mein Müsli zu schälen, die sie mir dann in kleinen Stücken unterrührte.
    »Du brauchst das wirklich nicht zu machen, Lisa«, betonte ich scharf, »ich bin kein Baby mehr.«
    Meine Mutter hasste es, wenn ich sie beim Vornamen nannte, aber ich tat es trotzdem und vor allem immer dann, wenn sie mich behandelte, als sei ich gerade fünf
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