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Stolperherz

Stolperherz

Titel: Stolperherz
Autoren: Boje Verlag
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Gong-Profi entwickelt, denn mittlerweile konnte ich fast bis auf die Sekunde genau voraussagen, wann es klingeln würde. Anfangs hatte ich die Minuten noch still mitgezählt, aber inzwischen konnte ich den Zeitpunkt intuitiv bestimmen. Ich irrte mich nur noch in Sekundenbruchteilen.
    Erleichtert ließ ich mich auf meinen Platz fallen. Obwohl es geläutet hatte, hatte es im Gegensatz zu mir niemand besonders eilig, zu seinem Platz zu kommen.
    »Guten Morgen!«, begrüßte uns Frau Weinberg, als sie auf hohen, schwarzen Lackschuhen in den Klassenraum stöckelte.
    Die Weinberg war erst Ende dreißig, wirkte aber mit ihrem strengen Look glatt zehn Jahre älter. Irgendjemand hatte mal gesagt, dass sie früher verlobt gewesen war. Der Mann, auch ein Lehrer, war dann aber mit einer anderen abgehauen und hatte sie sitzen gelassen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass die Geschichte stimmte, wenn ich mir meine Lehrerin so ansah. Ihre Stirnfalte war eine tiefe Furche, die sich immer dann bildete, wenn sie einem von uns klarmachen wollte, dass die Versetzung gefährdet war oder eine Arbeit verhauen wurde oder sonst ein Weltuntergang dieser Art kurz bevorstand.
    »Kinder, ich habe heute eine Überraschung für euch«, verkündete sie feierlich. Die Tür ging auf und Frau Weinberg fuchtelte wild mit einem Arm, als wolle sie jemanden herbeilocken.
    Und dann betrat dieser Jemand den Raum.
    Es gibt Momente, die sich in dein Hirn einbrennen, weil du in dem Augenblick spürst: Das wird dein Leben verändern.
    Sie laufen langsamer ab als andere Augenblicke und passieren immer dann, wenn du am wenigsten mit ihnen rechnest.
    Das Mädchen, das soeben den Raum betreten hatte und nun unsicher in die Runde lächelte, konnte man ohne Übertreibung als wunderschön bezeichnen. Sie hatte lange, weizenblonde Haare, die sich an den Spitzen wie selbstverständlich lockten, und unglaublich große, hellblaue Augen. Ihre Haut war auch hell, fast durchsichtig. Sofort erinnerte sie mich an eine dieser Porzellan-Elfenfiguren, die früher immer in der Vitrine meiner Großtante Lilo standen und so zerbrechlich wirkten, dass ich mich nie getraut hatte, sie anzufassen.
    »Das ist Kira.«
    Kiras Lächeln verbreitete sich zu einem Lachen und gab den Blick auf ihre geraden, weißen Zähne frei. Ihr Mund war fast ein wenig zu groß für das zierliche Gesicht mit der kleinen Nase, und ihre Lippen sahen aus, als wäre ein klein wenig Lipgloss darauf, einfach so, von Natur aus. Sie trug ein weißes T-Shirt und eine enge Jeans, die ihre zierliche Figur gut zum Vorschein brachte. Sie war perfekt. Es war klar, dass Kira überhaupt nichts dafür tun musste, um so auszusehen. Und noch klarer war, dass sich sofort alle Jungs in der Klasse unsterblich in sie verlieben würden.
    Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Kira unsere Klasse betreten hatte, war ich ein unauffälliges Mädchen gewesen, um das sich zwar keiner wirklich kümmerte, das aber auch keinen störte. Ab und zu grüßte man mich und manchmal wurde ich wahrscheinlich sogar bemitleidet. Ein bisschen Freak, ein bisschen Herzproblemmädchen, zwar unscheinbar, aber trotzdem auf irgendeine Art eine Besonderheit, hatte ich meine Rolle in der Klasse gefunden. Irgendwie sucht sich doch jeder irgendwann seine Rolle im Leben und für mich war eben die Lücke des verschrobenen Herzproblemmädchens frei.
    Aber in diesem Moment, ich nenne ihn den Zeitpunkt der Erscheinung, wusste ich eine Sache ganz genau: Ab sofort würde ich nur noch ein Geist sein. Die wenigen Blicke, die selten genug für mich übrig waren, galten ab jetzt nur noch ihr: Kira.
    Und ich würde es ihnen noch nicht einmal verübeln können. Wäre ich ein Junge, würde ich mich auch Hals über Kopf in sie verlieben. Sogar als Mädchen spürte ich den Drang, mich mit ihr anfreunden zu wollen. Sie war nicht nur schön, sie sah auch noch liebenswürdig aus. Es gibt sie, diese Mädchen, deren Schönheit auf andere abfärbt. Kein Zweifel: Kira war so ein Fall. Neben ihr wurde man schöner oder fühlte sich so. Als würde etwas von diesem Feenglanz, den sie ausstrahlte, herabfallen und einen selbst zum Leuchten bringen.
    Ein Gemurmel ging durch die Klasse und Frau Weinberg hielt uns zum Stillsein an.
    »Kinder! Für eure neue Mitschülerin solltet ihr euch mal von eurer besten Seite zeigen! Kira wird nach den Sommerferien zu uns stoßen. Ihr Vater, Herr Andersson, war sicher, dass es gut sein würde, wenn Kira euch bereits vor den Ferien kennenlernt, und ich fand die
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