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Stolperherz

Stolperherz

Titel: Stolperherz
Autoren: Boje Verlag
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das Schulgebäude betrat, kam es mir vor, als wäre ich nicht Wochen, sondern Jahre weg gewesen. So viel hatte sich verändert, und obwohl nur die Ferien zwischen meinem alten und meinem neuen Leben lagen, fühlte es sich an, als wäre ich eine ganz andere Person geworden. Aber das stimmte so nicht. Vielmehr hatte ich mich endlich getraut, die Person zu werden, die ich im Verborgenen schon immer gewesen war.
    Ich hatte dem Wunsch meiner Mutter, endlich die OP zu machen, nachgegeben, denn ich wollte leben, und zwar möglichst lange, und am besten mit einem gesunden Herz. Der Termin stand bereits fest. Auch wenn die Chance, dass mein Herz danach völlig gesund sein würde, gering war, wollte ich es trotzdem versuchen. Und zwar nicht für Lisa, sondern für mich.
    »Wer möchte denn als Erstes seinen Aufsatz vorlesen?«, fragte Frau Weinberg und sah forschend in die Runde.
    Eine Hand hob sich, ganz leicht. Es war meine.
    »Sanny?« Frau Weinberg sah mich an, als hätte ich gerade eine Atombombe gezündet.
    »Du, ich meine DU willst vorlesen?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Ich werde meinen Aufsatz nicht vorlesen, denn ich habe keinen geschrieben.«
    »Aber …«
    »Aber«, unterbrach ich meine Lehrerin, »ich möchte Ihre Aufgabenstellung trotzdem beantworten. Ich habe etwas …«
    Ja – was hatte ich? Sollte ich sagen: »Ich habe etwas erlebt?« Denn so war es. Aber das hätte Fragen aufgeworfen, also wählte ich eine einfachere Formulierung. »Ich habe etwas vorbereitet.«
    »Wenn das so ist, bitte«, antwortete Frau Weinberg erstaunt.
    »Mut«, begann ich.
    Ich dachte daran, wie viele verschiedene Arten von Mut mir auf meiner Reise begegnet waren. Es waren oft die kleinen Dinge gewesen, die so viel verändert hatten. Flocke, der seinen Traum nie aufgegeben hatte und nun ein fester Bestandteil einer Band war. Kira, die sich getraut hatte, mir zu gestehen, wie unsicher sie war. Michelle und ich auf dem Maschseefest. Greg, der seine Songs gespielt hatte.
    Die Bilder in meinem Kopf schienen sich wie von selbst zu einem Puzzle zusammenzusetzen und ich sprach weiter.
    »Es gibt viele Arten von Mut. Mut, jemandem zu helfen, der etwas nicht alleine schafft. Mut, jemanden zu beschützen, wenn er in Not ist. Mut, sich für eine Sache einzusetzen, hinter der man steht, auch wenn es bedeutet, dass das zum eigenen Nachteil sein kann. Aber es gibt eine Sache, die alle Arten von Mut gemeinsam haben: Wahrhaftigkeit. Denn den allergrößten Mut erfordert es, wahrhaftig zu sein. Nur wenn du zu dir selber stehst, kannst du spüren, wie viel Mut in dir steckt, wie voll von Mut dein Herz ist, so voll, dass es beinahe überquillt. Mut ist, man selbst zu sein, auch wenn das nicht immer der einfachste Weg ist. Mut wird nicht an Erfolg oder Versagen gemessen, sondern an seiner puren Anwesenheit. Jemand hat mal gesagt: Den Mutigen gehört die Welt. Ich denke, einerseits stimmt das, denn nur mit dem Mut, für seine Überzeugungen einzustehen, hat man die Chance, glücklich zu sein. Andererseits kann man den Lauf der Dinge nicht immer beeinflussen, selbst mit noch so viel Mut. Aber wenn man weiß, wer man selber ist, und sich traut, das zu zeigen, mit allen Schwächen, Ängsten und Fehlern, ist man stark. Denn mutig ist nicht der, der keine Ängste hat, sondern der, der sich ihnen stellt.«
    *
    Ich hatte viel gelernt auf dieser Reise, die mehr eine Reise zu mir selbst gewesen war, als alles andere. Zwar war nichts davon messbar – außer vielleicht das Autofahren (wenn auch immer noch amateurhaft, wie Greg es sah) –, aber trotzdem war nichts mehr wie zuvor. Vielleicht ist das das Leben: eine ewige Reise zu sich selbst. Vielleicht ist es in Ordnung, nie wirklich anzukommen. Ich hatte da so eine Ahnung, was für ein Mensch ich einmal sein wollte, und vielleicht gab es Momente, in denen ich dieser Mensch bereits war. Man kann nicht immer man selbst sein , nicht in jedem einzelnen Moment des Lebens, denn das hieße ja, man wüsste immer genau, wer man ist. Aber man kann sich selber spüren, und wissen, was für einen richtig ist. Und das ist schon jede Menge Selbstsein , mehr, als ich je erwartet hätte.
    Mut hat viele Seiten, und ich war sicher, dass ich viele davon noch nicht kannte. Aber eine Sache wusste ich genau: Mutig zu sein bedeutete nicht, keine Ängste zu haben, sondern sich ihnen zu stellen.

DANKE AN …
    … die Jungs. Es war eine unglaubliche Zeit, die ich nie vergessen werde. Als ich dieses Buch schrieb, war ich
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