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Stolperherz

Stolperherz

Titel: Stolperherz
Autoren: Boje Verlag
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interessierten ihn einfach nicht. Und ich glaubte auch erkannt zu haben, was ihn wirklich interessierte: Musik. Zumindest hatte ich das während meiner zahllosen Feldstudien über Greg herausgefunden, die ich bei jeder Gelegenheit abhielt.
    Jeder wusste, dass die Musik allen Mitgliedern von Crystal das Wichtigste war. Aber ich war mir sicher, dass Greg etwas in sich trug, das über reine Leidenschaft hinausging. Oft, wenn er in den Pausen mit den Jungs in der obligatorischen Raucherrunde stand, schweifte sein Blick ab. Anfangs hatte ich gedacht, dass er die Mädchen der zehnten und elften Klasse beobachtete, die sich immer flüsternd und albern kichernd in der Nähe der Crystal-Jungs aufhielten, aber er reagierte nie auf deren Flirtversuche – er schien einfach durch sie hindurchzusehen. Vielleicht war es genau diese Sehnsucht, die er ausstrahlte, die mich so anzog.
    Eines war sicher: Ein Kuss von Greg und mein Leben hätte schlagartig Sinn gemacht – so ziemlich alles hätte dann Sinn gemacht.
    Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich noch nie im Leben einen Jungen geküsst hatte. Mit einer Ausnahme: Letztes Jahr gab es einen halbherzigen Versuch mit Simon, dem dicken, bebrillten Nachbarsjungen aus der Nebenklasse, den alle nur Flocke nannten, seit er mit einer Crash-Diät zwanzig Kilo abgenommen hatte, aber immer noch nicht schlank war. Nach den letzten Sommerferien war er in einer neuen Version aufgetaucht, schlanker und ohne Brille, und hatte erklärt, dass er sich jetzt »… zwar wie eine Flocke fühle, aber leider immer noch aussehe wie ein Eisberg«.
    Damit hatte er sich selbst reingeritten, das war klar, und so kam er zu seinem ruhmlosen Namen, mit dem er natürlich von allen noch mehr gehänselt wurde als zuvor. Da Flocke aber ein hoffnungsloser Optimist war – Prototyp für den Ausspruch »Das Glas ist halbvoll« –, schien ihm das nicht sonderlich viel auszumachen. Zumindest ließ er es sich nicht anmerken und grinste sich durch unsere Schulzeit wie ein Breitmaulfrosch auf Speed.
    Flockes Passion – neben der unsäglichen Angewohnheit, wenn er nervös war, nervige Sprüche in Reimform vorzutragen – war das Keyboard, und er hatte zu meinem Leidwesen keine Hemmungen, Tag und Nacht darauf herumzuhämmern. Da die Hauswände unserer Wohnungen unmittelbar aneinandergrenzten, konnte ich seine nicht vorhandenen Fortschritte hautnah miterleben, ob ich wollte oder nicht. Seine Mutter arbeitete Tag und Nacht als Busfahrerin, man bekam sie so gut wie nie zu Gesicht. Mehrmals schon war das Jugendamt da gewesen, weil irgendwelche besorgten Nachbarn – und ich konnte nicht hundertprozentig ausschließen, dass es meine Mutter war – vermeldet hatten, dass Flocke zu oft und zu lange alleine blieb. Bisher folgten diesen Besuchen aber keine Konsequenzen, immerhin war Flocke schon sechzehn und kein Kleinkind mehr. Flockes Mutter hatte keine Zeit, für ihn zu kochen und so stopfte er sich ständig mit irgendwelchem Fast Food voll. In der Nachbarschaft wurde ganz schön viel über sie gelästert; dass sie sich zu wenig kümmere und eine Rabenmutter sei. Auch Lisa schätzte diesen ihrer Meinung nach »dunklen Fleck« in unserer Nachbarschaft nicht besonders. Ich konnte ihre Erleichterung darüber, dass ich eine Freundschaft mit Flocke nicht unbedingt vorantrieb, förmlich sehen.
    Aber zurück zum Kuss. Letztendlich war dieser Kuss in Flockes Vorgarten wohl nur das Ergebnis einer seltsamen Mischung aus Mitleid und dem Versuch meinerseits gewesen, ihn von seinem erbärmlichen Keyboard-Spiel abzuhalten. Und das bedeutete eine Menge, wenn jemand wie ich etwas aus Mitleid tun konnte. Vielleicht schwang auch ein wenig der Wunsch mit, die Sache mit dem ersten Kuss endlich hinter mich zu bringen – immerhin hatte jeder in der Klasse es schon getan. Außer mir. Wer war da passender als der Nachbarsjunge, mit dem ich schon nackt im Planschbecken in unserem Vorgarten gesessen hatte? Vor hundert Jahren, versteht sich.
    Der Kuss dauerte nur wenige Sekunden und ich hielt zum Selbstschutz meinen Mund geschlossen, bemerkte aber Flockes Zungenspitze, die sich blitzschnell zwischen meine zusammengepressten Lippen bohren wollte. Da mir das eindeutig zu weit ging und selbst mein empathischstes Mitleid dafür nicht ausreichte, brach ich das Ganze ab. Flocke war anscheinend nie darüber hinweggekommen, denn schon am nächsten Tag hatte er ein Lied mit dem Titel »San, please kiss me again« komponiert. Natürlich reimte es sich. Und
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