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Stolperherz

Stolperherz

Titel: Stolperherz
Autoren: Boje Verlag
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es erinnerte mich vom Klang schwer an die ehemalige DDR -Hymne »Auferstanden aus Ruinen« , die ich aus einer TV -Doku kannte, die ich mal mit Paps angeschaut hatte. Bis heute klimperte er diesen Song mindestens einmal täglich vor sich hin.
    Es war übrigens nicht so, dass ich Flocke nach diesem Zungendilemma vollends ignorierte, ich hielt aber einen vorsichtigen Sicherheitsabstand ein, um ihm keine Hoffnung zu machen. Er sollte bloß nicht denken, dass so etwas noch mal passieren würde. Abgesehen davon, dass ich ihn nicht in Verlegenheit bringen wollte, war es mir natürlich auch peinlich, mit ihm gesehen zu werden. Die beiden größten Außenseiter der Schule mussten nicht unbedingt auch noch zusammenhängen, das hätte viel zu viel Raum für allerlei Spekulationen und Gerüchte gegeben, denen ich unbedingt aus dem Weg gehen wollte.
    Die unr ühmliche Geschichte meines ersten Kusses hatte ich also weitestgehend verdrängt und sie durch Tagträume von Greg ersetzt, was mir deutlich besser bekam. Gleichzeitig wusste ich, dass dies eine Sehnsucht war, die niemals gestillt werden würde, so wie es das mit den meisten Sehnsüchten nun mal auf sich hatte. Zumindest mit denen einer fast sechzehnjährigen Herzproblempatientin mit ausgewachsener Sozialphobie. Aber es ist doch so: Jeder braucht sein Stück vom Unerreichbaren. Und Sehnsucht ist aus Verzweiflung, Hoffnung und Zuversicht gemacht. Sie allein ist der Grund, warum wir leben.
    »Welche Klasse?«, wiederholte Greg.
    »Küssen …«, flüsterte da eine fremde Stimme – seltsamerweise aus meinem Mund.
    »Was?!« Greg sah mich mit aufgerissenen Augen an.
    »Müssen!«, brüllte ich Greg unvermittelt ins Gesicht. Er schreckte ruckartig zurück. »Ich meinte müssen ! Das werde ich ja wohl noch wissen müssen !«
    Greg lächelte mich irritiert an. »Du bist echt spooky.«
    »Sie geht in meine«, hatte dann Jonas für mich übernommen und genervt die Augen verdreht. »9b. Kein Drama, ich sag Bescheid. Das passiert bei ihr öfter.«
    Daraufhin hatte Greg sich umgedreht und war zurück zu den anderen Jungs in die Raucherecke gegangen, die natürlich offiziell keine war.
    Das also war mein persönlicher Höhepunkt und Gipfel der Peinlichkeit gewesen, denn von draußen glotzten sie mich alle immer noch durch das Fenster an, als sei ich eine neu entdeckte Kleinaffenart. Nur die dünne Glasscheibe trennte die starrenden Gesichter und mich. In diesem Moment wäre ich tatsächlich gerne gestorben, einfach so.
    Im Grunde ist die Schule doch ein elender Kriegsschauplatz fürs Herz. Und wenn man noch dazu so ein schwaches Exemplar hatte wie ich, war man praktisch erledigt.
    So viel zu meinem Besuch in der Teestube.
    Kira war keine zwei Stunden an dieser Schule und hatte das geschafft, wovon ich nur träumen konnte. Es schien einen geheimen Code zu geben, wie jemand zu sein hatte. Und ich war offensichtlich die Einzige, die bei der Verteilung dieses Codes mal wieder krank gewesen war.
    Da stand sie und lachte. Da stand sie und lachte einfach, brauchte nichts zu sagen, und alle waren begeistert. Eigentlich hätte ich spätestens jetzt kotzen können, aber tatsächlich war es so, dass sie auch mich schon längst umgehauen hatte.

2. KAPITEL: PAPS
    Das Abendessen mit der Familie war meiner Mutter mindestens genauso heilig wie ihr Frühstück. Mir dagegen fiel es nach wie vor schwer, die gesunden, ausgewogenen Lebensmittel, die sie stundenlang im Biomarkt fein säuberlich nach Herkunft, Saison und Vitamingehalt ausgewählt hatte, in mich hineinzuschieben. Sogar der Prozess des Kauens kam mir seit Neuestem irgendwie merkwürdig vor. Ich zwang mich, weil ich einer Diskussion aus dem Weg gehen wollte, vor allem aber, weil Paps endlich mal wieder dabei war.
    »Die Erbsen werden aber nicht aussortiert«, sagte Lisa, als ich gerade dabei war, mir vorzustellen, auf dem Teller würden grüne Bubble-Tea-Kugeln liegen. So hätte ich sie sicher besser heruntergekriegt. Vorstellung im Eimer. Wie so oft bei unseren gemeinsamen Abendessen stieg in mir der spontane Wunsch auf, meine Mutter mit dem stumpfen Messer in meiner Hand zu erdolchen.
    »Wie war’s in der Schule?«, fragte mein Vater.
    Welche Ironie! Da hätte er genauso gut fragen können: »Wie war’s im Krieg?«
    »Super.«
    Paps und ich waren uns mal ziemlich nah gewesen, früher. Seit Längerem aber war das nicht mehr so, vor allem, seitdem er kaum noch zu Hause war. Die Dinge änderten sich in letzter Zeit häufig, dachte
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