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Stolperherz

Stolperherz

Titel: Stolperherz
Autoren: Boje Verlag
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wirren Gedanken aus, die bis gerade eben noch planlos in meinem Kopf herumgesaust waren.
    Ich hatte den Eindruck, kein einziges Gefühl mehr in mir zu haben, ich war nicht traurig oder wütend, ich musste nicht weinen und wollte auch nicht rumbrüllen.
    Und doch war da ein Gefühl, das jede Zelle meines Körpers eingenommen hatte: Verlassenheit.
    Immer, wenn Paps sehr emotional war, sprach er niederländisch, so auch jetzt. »Ik hou van je!«
    Er sprach ein wirklich gutes Deutsch, außer, dass er so seine Schwierigkeiten mit Ü und U hatte, und dabei das Rührei zum Ruhrei machte, dafür aber das so genannte Rührgebiet erfand.
    Ich konnte seine Liebesbeteuerung nicht erwidern, meine Sprache schien verschwunden, die Worte auf seltsame Weise aufgebraucht.
    »Bitte sag was, Sanny! Irgendwas«, flüsterte Paps und klang fast flehend.
    Da schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Ich musste mir meine Haare färben. Dringend, unaufschiebbar, am besten noch heute. Mit irgendeiner Farbe, die dieses Mischlingshund-Hellbraun verschwinden ließ. Das hatte ich schon lange vor und jetzt war es an der Zeit. Genau jetzt.
    »Ich möchte mir meine Haare färben«, antwortete ich und stand auf.
    *
    »Rot also, ja?« Lisa versuchte, sich ihren Schock über meine neue Identität nicht anmerken zu lassen. Natürlich merkte ich trotzdem, dass sie mich am liebsten angeschrien und geschüttelt hätte, die Färbeaktion aber nach dem gestrigen Gespräch wohl unter »Schocknachwirkung« einordnete.
    »Genau. Rot.«
    »Wieso gleich feuerrot?«, fragte sie wie versteinert.
    »Kupferrot. Strawberry Kiss , um genau zu sein.«
    Ich setzte mich an den Küchentisch und genoss den Ärger meiner Mutter. Ich war nun mal nicht mehr ihr unberührtes, flauschiges Kükenkind, auch wenn sie es gerne noch weiter so gehabt hätte. Und jetzt konnte man es auch sehen, es war längst überfällig gewesen. Die Tönung hatte ich schon vor Wochen mit noch zwei weiteren Farben gekauft, weil ich mich nicht entscheiden konnte. Gestern, direkt nach dem Gespräch, fühlte ich mich allerdings nach rot. Heute Morgen war ich zwar vor meinem eigenen Spiegelbild ein wenig erschrocken, aber ich würde mich schon noch daran gewöhnen. Meine neue Phase war rot, definitiv.
    »Möchtest du mit mir noch mal alleine über alles reden?«, fragte mich Lisa angestrengt besorgt, als ob meine Rotphase nur dem gestrigen Abend geschuldet war. Dass ich das schon seit Ewigkeiten vorhatte, auf die Idee kam sie natürlich nicht.
    Ich hatte nach der Färbaktion im Badezimmer, das danach aussah wie ein Schlachthof, den Abend auf meinem Zimmer verbracht und die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich konnte immer nur daran denken, dass Paps ausziehen würde. Obwohl das in Wirklichkeit keine große Veränderung bedeutete, er war ohnehin in letzter Zeit selten zu Hause gewesen. Und doch: Dass mein Vater auf einmal nicht mehr hier wohnen sollte, fühlte sich derart seltsam an, dass ich es gar nicht glauben konnte. Aber es hatte sich gestern alles so endgültig angehört. Sogar wenn ich noch fünf Jahre alt gewesen wäre, hätte ich verstanden, dass meine Eltern diese Entscheidung nicht spontan getroffen hatten.
    »Hm?«, hakte sie nach.
    Ich schüttelte den Kopf. »Was gibt’s noch zu reden? Eure Entscheidung steht doch sowieso fest.«
    Noch gestern Abend hatte Paps seinen Koffer gepackt und war heute Morgen gegangen. Er hatte sich vor mein Bett gekniet und mich eine Weile beim Schlafen beobachtet, aber ich hatte es gemerkt. Erst tat ich noch so, als ob ich schliefe, aber irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und fiel ihm um den Hals. Wir waren Profis im Abschiednehmen, schließlich taten wir es fast jede Woche. Aber diesmal war es anders, schmerzhafter. So, als ob ich mich nicht nur von Paps verabschiedete, sondern auch von einer Kindheit, die, obwohl sie schon vorher einen Knacks gehabt hatte, nun endgültig zu Bruch ging.
    Sie hatten sich eine Regelung ausgedacht, »… mit der alle zufrieden sein werden«. Ich sollte jedes zweite Wochenende bei Paps verbringen, und immer die Hälfte der Ferien, vorausgesetzt, er war nicht auf Dienstreisen. Da das aber praktisch immer der Fall war, konnte ich an einer Hand abzählen, wie oft ich ihn in Zukunft noch sehen würde. Ich hatte zu alldem nichts gesagt, mein Kopf war einfach nur leer gewesen. »Na ja, aber vielleicht hast du ja noch Fragen …«, sagte Lisa jetzt und stellte mir mein Müsli hin.
    Ich schob es weg. »Ich mag nicht.«
    »… zum Ablauf und
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