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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee
Autoren: Bastei Lübbe
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Der Biss der Fledermaus
    Wim Tanner wartete. Es waren jetzt nur noch die Geräusche der Nacht zu hören. In der Ferne schlug ein Hund an. Direkt neben ihm raschelte etwas im Gebüsch. Dann war es einen Augenblick still. Er blickte sich um. Selbst hier im Wald konnte man noch einigermaßen gut sehen. Gestern war Vollmond gewesen. Wie günstig. Wim Tanner schaute auf seine Armbanduhr. Die Anzeige sprang auf 23.50 Uhr. Ob es klappen würde?
    Er nahm das Nachtsichtgerät zur Hand und bog ein paar Zweige zur Seite. Die Mädchen lagen immer noch vor ihrem Zelt, und ihr Lagerfeuer brannte. Er konnte sie gut erkennen. Sein Versteck war gerade einmal hundert Meter von ihnen entfernt. »Meine Hübsche …«, flüsterte Wim Tanner und sah zu einem Käfig hinüber, den er an einen Ast gehängt hatte. »Ich geh noch mal zu den Mädchen. Vielleicht kriege ich ja raus, ob sie wieder draußen schlafen.« Die Vampirfledermaus, die in dem Käfig kopfüber an einem Stab baumelte, flatterte wie zur Antwort mit den Flügeln.
    Wim Tanners Blick fiel auf eine Zecke unter dem Flügelansatz des Tieres. Er grinste. Eine Zecke, die sich von einem Vampir ernährte. Das hatte was. Er öffnete den Käfig, griff sich die Fledermaus, zog ihr die Zecke aus der Haut und setzte das Tier zurück an seinen Platz. Die prall gefüllte Zecke schimmerte rotbraun in seiner Hand. Wim Tanner zerdrückte sie zwischen den Fingern. Jetzt aber los. Er versteckte den Käfig zusammen mit seinem Rucksack unter ein paar Zweigen. »Bin gleich wieder da«, raunte er der Fledermaus zu.
    Die Mädchen hatten ihr Lager direkt am Seeufer unter einer großen Trauerweide aufgeschlagen. Wim Tanner schlich bis auf wenige Meter an ihr Zelt heran. Hinter einem dichten Busch kauerte er sich nieder. Er hatte sich den Platz der Mädchen bereits mehrmals angeschaut. Beim letzten Mal waren sie weit draußen im See schwimmen gewesen. Wahrscheinlich hatten sie ihn überhaupt nicht bemerkt. Falls doch, konnten sie nichts weiter als die Silhouette eines großen dunklen Mannes gesehen haben.
    Jetzt stand eines der Mädchen auf und kramte in den Vorräten. »Was wollt ihr trinken? Cola, Fanta, O-Saft? Oder Rotwein?«
    Es war Jette Lindner. Wegen ihr war er hier. Auftrag von Kai Saalfeld. Er sollte so viel wie möglich über sie herausfinden. Wie ihr Tagesablauf war, welche Freunde sie hatte, Vorlieben und so weiter.
    Sie hatten lange gebraucht, um das Mädchen überhaupt ausfindig zu machen. Sie war unter dem Namen Lina Sandwey geboren und später adoptiert worden. Anfangs hatten sie nur ihren Geburtsnamen gekannt, unter dem sie aber gar nicht mehr lebte. Er hatte sie schon einmal gesehen, als Baby. Aber das spielte jetzt keine Rolle.
    Jette Lindner hob den Kopf, und Mondlicht fiel auf ihr Gesicht. Sie hatte dunkle gewellte Haare, fast schwarze Augen und volle rote Lippen. Dazu eine sehr helle Haut. Neben ihrem rechten Ohr war auf der Wange deutlich ein Muttermal zu sehen. Ein hübsches Mädchen. Zumindest nach den Maßstäben, die die Leute gemeinhin anlegten.
    Was für ein blöder Abend, dachte Jette. Seit Stunden schon war mit ihren Freundinnen nichts anzufangen. Charlie starrte die ganze Zeit schweigend ins Feuer, und Klara las.Jette sah auf die Uhr. Es war Viertel nach zwölf. Viel zu früh, um schlafen zu gehen.
    »Was wollt ihr denn jetzt trinken?«, wiederholte sie ihre Frage. Aber Charlie und Klara blickten immer noch nicht auf. Jette seufzte, ging zu Charlie und beugte sich zu ihr hinunter. »Wenn du jetzt nicht sagst, was du trinken willst, renne ich schreiend in den Wald, und dann könnt ihr ja gucken, was aus dem Abend noch wird.«
    Jetzt hob Charlie tatsächlich den Kopf. Neugierig blickte sie ihre Freundin an.
    »Rotwein, O-Saft, Cola?« Jette streckte ihr die Flaschen entgegen.
    »Das würdest du wirklich tun?«, fragte Charlie.
    »Was?«
    »In den Wald laufen. Schreiend.«
    »Immer noch besser, als sich hier zu langweilen.«
    Charlie richtete sich auf. »Klara! Es gibt Programm.«
    Das durfte ja wohl nicht wahr sein, dachte Jette. Da bot man Charlie freundlich etwas zu trinken an, und sie nutzte die Gelegenheit, um einem eine Mutprobe aufzuzwingen. Was war nur mit ihr los? Das war sonst gar nicht ihre Art.
    »Und?« Charlie ließ nicht locker. »Was ist jetzt?«
    »In den Wald? Wozu das denn?«, fragte Klara, die ihr Buch zur Seite gelegt hatte.
    »Traust du dich?«, fragte Charlie.
    Jette lauschte. Es war sehr still. Die Blätter in den Baumkronen rauschten nicht mehr. Der
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