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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee
Autoren: Bastei Lübbe
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Die Fledermaus gewann an Höhe und setzte zu einem Gleitflug über den See an. Er ließ sie gewähren. Immer wieder glitt sie über die dunkle Wasserfläche, erhob sich und flatterte weiter. Irgendwann schnalzte er leise mit der Zunge, und das Tier kam zurück.
    Die Fledermaus wollte sich gerade an den Finger ihres Herrn hängen, als Wim Tanner von oben einen Luftstoß spürte. Noch während er den Kopf hob, peitschte ein Flügelschlag sein Gesicht, und direkt vor ihm tauchte ein kräftiger Greifvogel auf. Das Tier fuhr seine Krallen aus, ergriff die Fledermaus, biss ihr in den Nacken und erhob sich mit seiner Beute in die Luft. Für den Bruchteil einer Sekunde blickte Wim Tanner in die weit aufgerissenen Augen der Fledermaus.
    Sie waren seltsam leer.
    Sein Mädchen war tot.
    Ein Falke. Das war ein Falke gewesen. Seit wann gab es hier Falken? Im ersten Moment war Wim Tanner wie erstarrt. Er fühlte einen beinahe körperlichen Schmerz. Doch dann griff er nach seiner Pistole, setzte den Schalldämpfer auf, zielte und schoss. Er war ein guter Schütze. Und die Nacht war hell. Er sah kurz zu den Mädchen hinüber. Jette Lindner bewegte sich im Schlaf. Der Falke knickte im Flug leicht ab, torkelte durch die Luft und fiel dann immer schneller in die Tiefe. Mit einem leisen Platsch schlug er auf der Oberfläche des Sees auf und ging sofort unter.
    »Charlie, Klara! Seid ihr wach?« Jette richtete sich auf. Irgendetwas hatte sie geweckt. Sie blickte sich um. Das Feuer war aus. In eines der leeren Weingläser war eine Schnecke gekrochen. Der Wald um sie herum war dunkel, aber der See schimmerte hell im Mondlicht. Seine Oberfläche war glatt. Nur von einem Punkt aus setzten sich kleine konzentrische Kreise fort.
    »Charlie, Klara!?«
    »Was ist denn?« Charlies Stimme war rau vom Schlaf.
    »Mir ist so komisch.«
    Charlie setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Was hast du gesagt?«
    »Ich fühl mich irgendwie seltsam.«
    »Du blutest ja!« Charlie zeigte erschrocken auf Jettes Arm.
    »Woher hast du das denn?« Auch Klara war plötzlich hellwach.
    »Weiß nicht.«
    »Tut es weh?«, fragte Klara besorgt.
    Jette schüttelte den Kopf. Eine kleine Wunde in der Armbeuge, aus der Blut tropfte. Es sah aus wie ein Biss. Jette drückte die Haut an der Stelle zusammen. Dann bemerkte sie Charlies schockiertes Gesicht.
    »Hier gibt es doch keine Ratten !?«, presste Charlie hervor.
    »Kommt«, sagte Klara, »wir gehen besser ins Zelt.«
    Jette legte sich drinnen zwischen ihre Freundinnen. Bald war Klaras gleichmäßiger Atem zu hören, doch Charlie schien noch wach zu sein. Jettes Wunde hörte nicht auf zu bluten. Von Zeit zu Zeit presste sie ihre Lippen auf die Haut und saugte daran. Irgendwann fiel auch sie in einen unruhigen Schlaf. Seltsame Bilder zogen an ihr vorbei. Blut, das aus ihrem Arm tropfte, auf dem Waldboden zu einer Lache wurde, schließlich in den See floss und dort das Wasser rot färbte.
    Wim Tanner wartete, bis sich bei den Mädchen nichts mehr rührte und sie die Taschenlampen ausgemacht hatten. Er fühlte sich wie betäubt. Mit schweren Schritten marschierte er zu seinem Lagerplatz zurück, in der Hand den leeren Käfig. Er zögerte einen Moment, dann rief er Kai Saalfeld an.

Lauschangriff
    Jonah lag im Dachgeschoss der saalfeldschen Villa auf dem Bett. Sein Kumpel, der Sohn des Hausherrn, hockte neben ihm auf der Bettkante und tippte ungeduldig auf einem kleinen Funkempfänger herum. Dukie, wie alle ihn nannten, war völlig in seine Arbeit vertieft. Hin und wieder hörte Jonah ein »Scheiße« oder ein »Das gibt’s doch nicht«. Er machte sich nicht die Mühe zu antworten. Mit der Technik von Dukie klappte es nie auf Anhieb. Aber wenn er genug geflucht, gedreht und getippt hatte, konnten sie schließlich doch alle Gespräche, die in der Villa geführt wurden, mithören. Und zwar wirklich alle.
    »Ich musste heute Morgen alle Wanzen aus dem Speisesaal rausholen«, sagte Dukie nach einer Weile. »War ziemlich knapp. Mein Vater hat das Zimmer persönlich gefilzt. Hatte ich irgendwie im Gefühl, dass er das tun würde. Das macht er manchmal, wenn er mit Wim heikle Sachen besprechen will. Die beiden essen da unten jetzt zu Abend. Als er mit dem Durchsuchen fertig war, bin ich aber rein und hab mein Handy hinter ein paar Bücher gelegt und die Abhörfunktion aktiviert. War absolut simpel. Die hatten den Raum nicht mal abgeschlossen. Jetzt muss ich das nur noch zum Laufen bringen, und zwar schnell.« Dann verfiel er
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