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Stoff für viele Leichen

Stoff für viele Leichen

Titel: Stoff für viele Leichen
Autoren: Léo Malet
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der Alliierten.
    „Wenn ich keine Jüdin gewesen wäre“, fing sie
wieder an, „hätten sich mein Vater und mein Bruder nicht meiner Verbindung mit
Moreno in den Weg gestellt. Ich hätte ein Recht auf mein Glück gehabt...“
    Daran zweifelte ich, teilte ihr meine Zweifel
aber nicht mit. „Sie sagten, er sei zurückgekommen?“ fragte ich.
    Auch daran zweifelte ich. Aber sie sollte besser
erst mal ihre Geschichte erzählen.
    „Ja. Es gibt mehrere Anzeichen dafür. Ich werd’s
Ihnen erklären. Bestimmt will er sich rächen. Meine Eltern haben ihm das Leben
schwergemacht. Ich möchte...wie sagt man? …das Schlimmste verhüten und habe
gedacht... weil Sie doch schließlich sein Freund waren...“
    „Ja. Aber ich hab ihn lange nicht mehr gesehen.“
    „Seit dem Tag, an dem Sie uns zum Bahnhof
gebracht haben...zur Gare de Lyon, als wir geflohen sind?“
    „Ja, genau.“
    Ohne sie um Erlaubnis zu fragen, stopfte ich
meine Pfeife, zündete sie an und hüllte mich in Rauch. Wie 1930 die Lokomotive
des Zuges nach Vintimille.
    „Und Sie haben danach von keinem mehr was
gehört? Von ihm genausowenig wie von mir?“
    „Nein.“
    „Sie wollten nicht einmal, daß wir Ihnen
schreiben.“
    „Möglich.“
    „Georges sagte, Sie hätten mich geliebt. Wir
sind mehrmals zusammen ausgegangen, Sie und ich, wenn er verreist war...
Erinnern Sie sich?“
    „Ja .“
    „Georges sagte, Sie hätten Feuer gefangen.“
    „Georges Moreno gehörte zu den Betrügern mit poetischer
Ader. Er war ein Phantast. Er liebte Sie so sehr, daß er sich nicht vorstellen
konnte, jemand könnte Ihnen begegnen, ohne sich auf den ersten Blick in Sie zu
verlieben.“
    „Er liebte mich wirklich, nicht wahr?“
    „Wie können Sie so etwas fragen! Er liebte Sie
bis zum Wahnsinn. Das ist das richtige Wort dafür. Wissen Sie noch, als Ihre
Eltern Sie von einem Tag auf den andern in die Provinz schickten, um Sie vor
seiner Hartnäckigkeit in Sicherheit zu bringen...“
    „Ja?“
    „Nach ein paar Tagen war er bei Ihnen, nicht
wahr?“
    „Ja.“
    „Aber nicht vollständig, hm?“
    „Ihm fehlte der kleine Finger an der rechten
Hand.“
    „Hat er Ihnen erzählt, unter welchen Umständen
er ihn verloren hatte?“
    „Er hat von einem Unfall oder so was Ähnlichem
gesprochen.“
    „Jaja. Ein Unfall...“
    Ich versank tiefer im Sessel und blickte dem
Rauch meiner Pfeife nach, der zur Decke hochstieg.
    „...Als er von Ihrer erzwungenen Abreise gehört
hatte, wollte er sofort zu Ihnen. Er wußte, wo Sie waren, besaß aber keinen
Sou. Er brauchte hundert Francs. Es war zu spät, um eine Kasse auszuräumen. Die
Läden waren schon geschlossen. Also machte er sich auf die Suche nach jemandem,
der für Sensationen zu haben war. Kleiner Finger zu verkaufen! Hundert Francs
für einen kleinen Finger! Einmalige Gelegenheit! Wir trafen einen anderen
Wahnsinnigen. Der nahm unseren Moreno beim Wort, ohne es selbst ernstzunehmen.
Nur konnte der verdammte Idiot sein Angebot nicht mehr zurückziehen. Unser
Freund hatte sich den Finger schon abhacken lassen. Das war eine Aktion! Alle sind
umgekippt. Moreno hatte zwar seine hundert Francs, konnte aber nicht den
Nachtzug nehmen. Er mußte ins Krankenhaus gebracht werden, wo er fast krepiert
wär…“
    Ich hustete, um den Kloß in meinem Hals
loszuwerden.
    „Ein zäher Bursche!“ Esther Lévyberg bedeckte
ihr Gesicht mit der Hand wie jemand, der müde ist.
    „Wenn er nicht gezögert hat, sich für hundert
Francs zu verstümmeln ,“ sagte sie mit dumpfer Stimme,
„was wird ihm dann nicht noch in den Kopf kommen, um sich zu rächen?“
    Ich schwieg.
    „...Ich hab nicht nur um meinen Bruder Angst.
Auch um mich. Ich bin nämlich schwach geworden. Als meine Eltern uns nach ein
paar Monaten wieder aufgespürt hatten, habe ich mich überreden lassen. Ich habe
Georges aufgegeben. Und sie haben ihn gezwungen zu fliehen, ich weiß nicht
wohin. Sie hatten irgendetwas aus seiner Vergangenheit herausgefunden.“
    „Er war ein Betrüger“, sagte ich. „Hieß nicht
mal Georges Moreno.“
    „Ja, ich weiß. Ich hätte ihn nicht verlassen
sollen. Na ja, was geschehn ist, ist geschehn. Ich hab’s bereut, aber das kann
er nicht wissen. Ich war schwanger von ihm; sie haben mich zur Abtreibung
gezwungen.“
    In ihren Augen blitzte es leidenschaftlich auf,
so wie ich es eben schon bemerkt hatte. Ich hob die Schultern.
    „Lassen wir die Vergangenheit ruhen“, sagte ich,
„und sprechen wir von der Gegenwart. Was erwarten Sie von
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